Unter aller Augen – Seite 1

Es war ein Mittwochnachmittag im vergangenen Sommer, schönes Wetter, Manuel Grente kann sich genau erinnern. Er war im Garten und schnitt gerade die Rasenkanten, als seine Tochter ihm von drinnen zurief, das Telefon klingele Sturm. Seltsam um diese Zeit, dachte Grente und unterbrach seine Arbeit. Am Apparat war ein Journalist aus Paris: "Spreche ich mit dem Bürgermeister von Esteville?"

Es geschieht nicht oft, dass sich Menschen für Esteville interessieren. Der kleine Ort in der Normandie zählt rund 550 Seelen. Es gibt einen Friseur, eine Kirche und ein Schloss aus dem 17. Jahrhundert. Aber nicht einmal einen Bäcker. Dafür liegt in Esteville ein berühmter Franzose begraben. "Was denken Sie über Abbé Pierre?", bestürmte der Journalist den Bürgermeister. "Was wird nun aus dem Grab? Was aus der Schule?" Noch wusste Grente von nichts. Aber er ahnte, dass er so schnell nicht wieder in seinen Garten zurückkommen würde. In den folgenden drei Tagen würde er 67 Interviews geben.

Der Mann, nach dem ihn die Journalisten fragten, war in Frankreich eine Legende, ein Idol. Denn Henri Grouès, wie Abbé Pierre mit bürgerlichem Namen hieß, hatte gelebt, um den Armen und Obdachlosen zu helfen. Er hatte Emmaüs gegründet, eine Gemeinschaft von Laien, die sich der Armutsbekämpfung verpflichtet haben; bis heute ist die Organisation in mehr als 30 Ländern aktiv. Der katholische Geistliche hatte Spenden gesammelt, ungezählte Initiativen gestartet und war unermüdlich gereist. Nach Indien, Palästina, Bangladesch, immer mit derselben Botschaft: "Es ist noch nicht zu spät, um zu versuchen, die Welt zu retten."

Sechzehn Mal wählten die Französinnen und Franzosen Abbé Pierre zur beliebtesten Persönlichkeit des Landes. Sein Leben wurde verfilmt und in vielen Büchern beschrieben. Ein Heiliger, hieß es, "einer der größten Humanisten des 20. Jahrhunderts". Als Abbé Pierre 2007 starb, mit 94 Jahren, drängten sich die wichtigsten Politikerinnen und Politiker des Landes auf seiner Trauerfeier in Notre-Dame. Anschließend wurde sein Sarg nach Esteville überführt.

Nicht nur barmherzig, sondern auch grausam

Doch seit dem vergangenen Sommer, als bei Manuel Grente das Telefon schellte, ist bekannt, dass der hochverehrte Mann nicht nur außerordentlich barmherzig war. Abbé Pierre konnte auch außerordentlich grausam sein. Über Jahrzehnte hinweg und noch in hohem Alter hatte er Menschen sexuell belästigt, bedrängt und missbraucht. So geht es aus drei Untersuchungen hervor, deren Ergebnisse mittlerweile veröffentlicht wurden, die ersten im vergangenen Juli. Emmaüs hatte eine Kanzlei beauftragt, den Vorwürfen nachzugehen, nachdem sich ein Opfer vertraulich gemeldet hatte.

Abbé Pierre: Der Bürgermeister von Esteville, Manuel Grente, steht vor dem Haus, welches Abbé Pierre als Zweitwohnsitz nutzte.
Der Bürgermeister von Esteville, Manuel Grente, steht vor dem Haus, welches Abbé Pierre als Zweitwohnsitz nutzte. © Laura Stevens für DIE ZEIT

Im ersten Bericht war von sieben Frauen die Rede, mittlerweile sind mindestens 57 Opfer bekannt. An ihren Aussagen gibt es kaum einen Zweifel, auch die Verantwortlichen von Emmaüs haben deutlich gemacht, dass sie den Betroffenen glauben.

Eine Frau hat erzählt, dass sie Abbé Pierre Anfang der 1970er-Jahre auf einer Reise nach Bangladesch begleitete. Sie war damals 21, er fast 40 Jahre älter. Tagsüber organisierten sie Hilfe für Menschen in Slums. Abends, in der gemeinsamen Unterkunft, habe der Priester sich ausgezogen, sie an den Brüsten gefasst und vor ihren Augen masturbiert. Sie habe damals Mitleid und Scham empfunden und sich nicht wehren können. Eine andere Frau lebte in jungen Jahren auf der Straße und wandte sich in ihrer Not an den Abbé. Dieser habe ihr geholfen, eine Unterkunft zu finden, und sie zum Oralverkehr gezwungen. Ein Mann hat berichtet, wie er als Minderjähriger gegen seinen Willen von dem Geistlichen penetriert worden sei.

Ein fast Heiliger, der gleichsam unter den Augen der Öffentlichkeit Menschen missbrauchte – wie konnte das passieren? Und wie geht man nun um mit seinem Erbe?

Der "Aufstand der Güte" machte aus dem Priester einen Star

Abbé Pierre wird 1912 in Lyon als Henri Grouès geboren, als Sohn einer wohlhabenden bürgerlichen Familie. Als junger Mann verzichtet er auf sein Erbteil und tritt in den Kapuzinerorden ein, später wird er Priester. Während des Zweiten Weltkriegs hilft er, jüdische Familien außer Landes zu schmuggeln, und trägt fortan seinen Tarnnamen aus der Résistance: Abbé Pierre. Nach dem Krieg wird er zunächst Abgeordneter, dann bringt er seinen Kampf auch auf die Straße. Der Moment, der seinen Mythos begründet, kommt im Februar 1954.

Der Winter damals ist eisig, eine ungeahnte Kältewelle hält Frankreich über mehrere Wochen im Griff. In Paris sinken die Temperaturen nachts auf minus 15 Grad. Aufnahmen zeigen Obdachlose, die dicht gedrängt auf Metroschächten lagern. In einer unbeheizten Notunterkunft stirbt ein drei Monate altes Baby. Gemeinsam mit seinen Weggefährten von Emmaüs sammelt Abbé Pierre Menschen von den Straßen, damit sie dort nicht erfrieren. Aber wohin mit ihnen? Anfang Februar wendet er sich im Radio an die Franzosen. L’appel de l’abbé Pierre, sein Aufruf macht Geschichte.

Der Priester appelliert an die Barmherzigkeit der Franzosen. Er bittet um wärmende Jacken, Decken, Zelte. Und verspricht: "Kein Mann, kein Kind wird heute Abend auf dem Asphalt oder auf den Quais von Paris schlafen." Danach werden er und seine Helfer von Spendern überrannt. Innerhalb weniger Tage kommen 500 Millionen Franc zusammen, eine enorme Summe. Die Stadt öffnet nachts mehrere Metrostationen für Obdachlose. Das Parlament bewilligt einen Kredit zum Bau von Notunterkünften. Der "Aufstand der Güte", den Abbé Pierre entfacht hat, rettet ungezählte Leben – und macht aus dem Priester einen Star.

Noch vor anderthalb Jahren läuft in den französischen Kinos ein Spielfilm über Abbé Pierre, ein Biopic. Erneut wird sein Lebensweg als Heldenepos inszeniert: die Geschichte eines unangepassten Priesters, der Menschen um sich schart und Massen begeistert, halb Wanderprediger, halb Rockstar. Benjamin Lavernhe, der Hauptdarsteller, wird für einen César, den französischen Filmpreis, nominiert. Ein paar Monate später erscheint der erste Bericht über den Missbrauch. Das Entsetzen ist groß, der Film wirkt plötzlich peinlich. Lavernhe sagt, er fühle sich verraten: "Ich hatte den Eindruck, ich hätte Abbé Pierre ein wenig gekannt."

Mehr als die heimlichen Liebschaften eines Priesters

"Es ist traurig", sagt Véronique Margron, "aber ich war nicht überrascht." Sie habe in den vergangenen Jahren so viele Geschichten über Missbrauch gehört – "dies war halt eine mehr".

Véronique Margron steht an der Spitze der Konferenz religiöser Gemeinschaften in Frankreich. Die 67-jährige Ordensschwester ist eine der treibenden Kräfte bei der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche Frankreichs. Gemeinsam mit der Bischofskonferenz hatten die religiösen Gemeinschaften 2019 eine unabhängige Untersuchungskommission eingesetzt. Die Ergebnisse waren erschütternd. Die Kommission geht davon aus, dass es seit 1950 um die 3.000 pädokriminelle Priester in Frankreich gab; die Zahl der minderjährigen Opfer schätzt sie auf 216.000.

Abbé Pierre: Abbé Pierre im Jahr 1984
Abbé Pierre im Jahr 1984 © Philippe Ledru /​ akg-images

Vor zwei Jahren wandte sich eine Frau an Véronique Margron und berichtete, was Abbé Pierre ihr vor vielen Jahren angetan habe. "Priester galten in Frankreich lange Zeit per se als heilige Männer. Sie waren fast unantastbar", sagt Margron. Vor allem nach dem Krieg habe es "ein blindes Vertrauen" gegeben. Abbé Pierre sei darüber hinaus durch seine Prominenz geschützt gewesen und durch den Ruf, der ihn begleitete: "Die Nebelwand, die ihn umgab, bestand darin, zu sagen, dass er ein lockeres Verhältnis zu Frauen hatte." Denn es gehörte zu seiner Legende, dass der Abbé Groupies anzog – und dass er selbst den Zölibat nicht streng nahm. Doch Margron ist überzeugt: Nicht nur die Kirche habe wissen müssen, dass es mehr gab als die heimlichen Liebschaften eines Priesters.

In Esteville steht ein Gutshaus. Roter Backstein, zwei Etagen, umgeben von einem kleinen Park. Das Anwesen hatte ein Industrieller der Emmaüs-Bewegung vermacht, Abbé Pierre nutzte es als Zweitwohnsitz. Esteville war für den engagierten Priester ein Rückzugsort, fernab von Paris. Das bescheidene Zimmer, in dem er dort lebte, blieb nach seinem Tod erhalten, und Emmaüs verwandelte das Gutshaus in ein kleines Museum. Heute aber sind die Türen zu. Auf einem Zettel am Eingang heißt es, das Zentrum Abbé Pierre sei endgültig geschlossen: "Mitarbeiter und Freiwillige möchten ihre Solidarität mit allen Opfern sexuellen Missbrauchs ausdrücken." Im Park stehen noch die Fotowände einer vergangenen Ausstellung. Sie zeigen Obdachlose, die in Zelten oder auf Parkbänken kampieren. Auf eine Mauer ist ein buntes Graffito gesprüht: "Wenn du leidest, egal wer du bist – hier lieben wir dich!"

Ein Aggressor, ein Vergewaltiger, ein Manipulator, ein Lügner

Philippe Dupont hat das Zentrum Abbé Pierre 14 Jahre lang geleitet; 14 Jahre lang wähnte er sich auf der richtigen Seite. Der Historiker hat den Gedenkort aufgebaut und eine Biografie geschrieben: Abbé Pierre, une vie d’amour. "Ein Leben voller Liebe", mehr als 400 Seiten. "Ich wollte die Welt verbessern, und ich war sehr glücklich, dass ich eine Stelle gefunden hatte, die meinen Idealen entsprach", erzählt der 40-Jährige in einem Videogespräch. "Und nun, nach 14 Jahren, muss ich feststellen, dass ich, ohne es zu wissen, für einen Mann geworben habe, der ein Monster war."

Die Biografie, erst vor zwei Jahren erschienen, ist keine Heiligenbeschreibung. Dupont schildert den Abbé als widersprüchliche Figur, als teils unzuverlässigen Abenteurer. Schon in den 1950er-Jahren hatte man ihn von allen offiziellen Funktionen bei Emmaüs entbunden. "Ich habe versucht, auf Ungereimtheiten hinzuweisen", sagt Dupont. "Aber die meisten Mitarbeiter von Emmaüs wollten davon nichts wissen." Dabei ist auch in seinem Buch von sexuellem Missbrauch noch keine Rede.

Philipp Dupont wurde im Dezember entlassen, gemeinsam mit sechs anderen Mitarbeitern des Zentrums. Seitdem hat er auf eigene Faust weiterrecherchiert und eine eigene Organisation für Opfer sexuellen Missbrauchs gegründet. Er sagt: "Meiner Meinung nach war Abbé Pierre ein Aggressor, ein Vergewaltiger, ein Manipulator, ein Lügner. Ein Mann mit einer gestörten Sexualität, der Vertreter einer Kirche, die es Jugendlichen verbietet, sich selbst zu befriedigen." In seinen Worten schwingt Wut mit: auf die Doppelmoral der Kirche; auf alte Weggefährten des Abbé, die noch leben, aber heute schweigen. Und vielleicht auch Wut auf sich selbst: dass er nicht sah, was man vielleicht hätte sehen können.

Denn natürlich hatte es Hinweise gegeben. Eine Reise des Abbé Pierre in die USA musste in den 1950er-Jahren abgebrochen werden, nachdem sich zwei Frauen bei einem örtlichen Priester über Belästigungen durch den Abbé beschwert hatten. Kurz darauf wurde er sechs Monate lang in einer psychiatrischen Klinik behandelt, angeblich wegen Überanstrengung. Anschließend warnte der damalige Erzbischof von Paris die Regierung, Abbé Pierre einen Orden zu verleihen: "Diese Auszeichnung ist sehr unpassend, denn der Betreffende ist ein Schwerkranker." Auch der Vatikan hatte, wie man heute weiß, schon damals Hinweise auf Fehlverhalten des Geistlichen, denen die katholische Kirche Frankreichs aber nicht weiter nachging.

Genauso wie Véronique Margron ist sich auch Philippe Dupont sicher, dass es Menschen gab, die die Untaten des berühmten Mannes deckten. Nicht nur in der Kirche, sondern auch bei Emmaüs, der Organisation, die den "Aufstand der Güte" fortführte. Laurent Desmard zum Beispiel, der frühere Privatsekretär des Abbé, der eisern schweigt, seit die Vorwürfe bekannt wurden. "Die Ehemaligen sind alle verdächtig", sagt Dupont. Margron zufolge gab es "eine Form passiver Mittäterschaft". Emmaüs selbst lässt alle Anfragen unbeantwortet. Die Organisation hat den Hinweis auf ihren Gründer mittlerweile aus dem Logo entfernt. Auch die Stiftung Abbé Pierre, Frankreichs größte Obdachlosenhilfe, heißt seit Kurzem nur noch Stiftung für die Unterbringung von Benachteiligten.

Abbé Pierre: Der Nationalheld stirbt im Jahr 2007 und wird in Esteville beigesetzt; eine Tafel, die ihm zu Ehren über seinem Grab hing, wurde inzwischen entfernt.
Der Nationalheld stirbt im Jahr 2007 und wird in Esteville beigesetzt; eine Tafel, die ihm zu Ehren über seinem Grab hing, wurde inzwischen entfernt. © Laura Stevens für DIE ZEIT

Im ganzen Land werden Straßen, Plätze, Schulen umbenannt

Was bleibt von der Barmherzigkeit? Was von dem früheren Vorbild? Rund 330.000 Menschen leben derzeit in Frankreich ohne festen Wohnsitz, ihre Zahl hat sich innerhalb eines Jahrzehnts mehr als verdoppelt. Doch die Spenden für die Stiftung, die nach Abbé Pierre benannt war, sind um 30 Prozent zurückgegangen. Es scheint, als müssten die Obdachlosen, die ihm so viel verdanken, nun für sein Fehlverhalten mithaften.

Im ganzen Land werden Straßen, Plätze, Schulen umbenannt. Mehr als 150 öffentliche Orte trugen den Namen Abbé Pierre. Auch Manuel Grente, der Bürgermeister von Esteville, ist im Herbst auf eine Leiter gestiegen und hat den Schriftzug "Abbé Pierre" über dem Eingang seiner Schule entfernt. Ein paar Schritte weiter gibt es einen kleinen Sportpark. Auf einer Wand, hinter dem Basketballkorb, prangte bislang ein Porträt des Abbés, überlebensgroß, in leuchtenden Farben. Grente hat es entfernen lassen, nun ist die Wand wieder weiß.

"Ich möchte die Geschichte nicht umschreiben", sagt Grente. "Wir sind der Ort, in dem Abbé Pierre begraben liegt. Wir waren stolz darauf und haben ihn alle verehrt. Aber man kann jemanden nicht mehr verehren, der so etwas getan hat." In einigen Jahren, hofft der Bürgermeister, "wird dieser Mensch vergessen sein".

Selbst wenn es so käme, es bleibt das Grab. Gleich hinter der Kirche, auf dem Friedhof von Esteville, hat Henri Grouès seine letzte Ruhestätte gefunden, gemeinsam mit einigen Weggefährten. Das Grab ist mit Kies bedeckt, in der Mitte liegt eine Figur des gekreuzigten Christus. Auf der Mauer darüber verrät eine helle Fläche, dass auch hier etwas entfernt wurde. Früher sei dort eine Tafel angebracht gewesen, sagt Grente. Auf ihr stand: Il a essayé d’aimer. Er hat versucht zu lieben.