DIETRICH LEDER: IN ERINNERUNG AN HARMUT BITOMSKY – ZEHN ÜBERLEGUNGEN (2009)Der Regisseur, Autor und Hochschullehrer Hartmut Bitomsky starb am 24. September 2025. Fast genau 16 Jahre zuvor hielt ich eine Rede auf ihn, als er am 26. September 2009 im Berliner Kino Arsenal, das damals am Potsdamer Platz untergebracht war, als Direktor der Deutschen Film- und Fernseh-Akademie Berlin (DFFB) verabschiedet wurde. Vor mir sprachen Barbara Kisseler, die damals die Senatskanzlei leitete, Rainer Rother als Leiter der Kinemathek, Jochen Brunow für die Dozenten der DFFB, Christian Petzold für deren Absolventinnen und Absolventen. Nach mir las Nina Hoss einen Artikel, den Hartmut über den Film „Jackson Country Jail“ von Michael Miller geschrieben hatte, der zum Abschluss der Veranstaltung gezeigt wurde. Es herrschte an diesem Abend eine merkwürdige Stimmung. Denn Hartmut war im Streit ausgeschieden, da es in der Akademie einen auch von interessierter Seite geschürten Krach gegen seine Reformpläne gab. Offiziell hieß es, er hätte aus Gesundheitsgründen aufgehört. Aber Barbara Kisseler sprach immerhin davon, dass es Auseinandersetzungen gegeben habe, als Hartmut „ein bisschen die Grundmauern der DFFB“ verändert habe. Angesichts des vollgepackten Programms redete ich nicht frei, sondern las den folgenden Text vor, improvisierte zu Beginn einige Worte zum Konflikt in der Akademie und zum fehlenden Rückhalt in der Politik. Kaum hatte ich die ausgesprochen, stand eine ältere Dame, die in der Mitte der oberen Hälfte des Kinosaales saß, auf und mühte sich, den Saal zu verlassen, während sie auf ihre Begleiterin einsprach. Ich verstand nicht, was sie sagte, dachte aber, sie protestierte gegen meine Worte, was sich aber als Irrtum herausstellte; ihr war nur nicht wohl und musste deshalb hinausgehen. Der nachfolgende Text blieb für den Moment gedacht und verschwand. Ich fand ihn, als ich nach dem Tod von Hartmut mein Archiv durchforstete. Christoph Hochhäusler schlug vor, ihn hier zu publizieren. Er sei der Erinnerung an Hartmut gewidmet. Zu BeginnZunächst möchte ich kurz die Voraussetzungen dessen klären, womit ich Sie in den nachfolgenden 30 Minuten traktieren werde. Im letzten Winter bei einer der Preisverleihungen, bei denen sich die Lehrer der deutschen Filmhochschulen und Kunstakademien miteinander rivalisierend treffen, hatte ich Hartmut davon erzählt, dass ich im Sommersemester eine Seminarreihe zu dem plane, was die Kritik „Essayfilm“ genannt hat, und dass ich diese mit seinen Filmen beginnen wolle. Ob er denn Lust und vor allem Zeit hätte, am Ende des Seminars für zwei Tage dazuzukommen. Er wollte es sich überlegen und seinen Terminkalender studieren. Ich zeigte also im Sommer insgesamt zehn seiner Filme, viele in den immer noch sehr gut erhaltenen 35-mm-Kopien, die bei der Stiftung Deutsche Kinemathek auszuleihen sind. Und am Ende des Semesters kam Hartmut für zwei Tage dazu. Nachfolgend beziehe ich mich auf die Notizen, die ich beim und nach dem Sehen der Film anfertigte. Die Tätigkeit eines Hochschullehrers hat ja ihre angenehme Seite.
Zehn Überlegungen im Anschluss an Bilder und Töne aus Filmen vonHartmut Bitomsky1.Damit fange ich an: Der Regisseur erklärt aus dem Off, während im Farbbild eine Art audiovisuelles Studierzimmer zu erkennen ist, dass die Kamera gleich über den Schreibtisch zu einem Monitor schwenken werde. Nun ist der Regisseur in leichter Aufsicht von hinten vor dem Monitor zu sehen, wie er auf einen Spiralblock blickt, von dem er möglicherweise das abliest, was er sagt. Der Schwarz-Weiß-Film auf dem Monitor startet.
Der Regisseur sagt:
Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof von La Ciotat. Das ist ein Film von Lumière. Als der Film das erste Mal öffentlich gezeigt wurde, da sollen die Zuschauer erschreckt und entsetzt gewesen sein, und sie fürchteten, die Lokomotive würde gradewegs über sie hinwegrollen. Man hat die panische Reaktion des Publikums immer als Beweis für die Lebensechtheit des Films zitiert, Ich weiß nicht, ob es wirklich stimmt, was man von der ersten Vorführung erzählt, die Leute auf dem Bahnsteig reagieren jedenfalls, wie man sieht, ganz und gar nicht bestürzt über den Zug. Sie haben keine Angst überfahren zu werden. Die Wirkung eines Films und seine Wahrheit – von hier fallen sie auseinander. Und sie werden nie wieder eins.
Nachdem er den Filmtitel genannt hatte, tauchte auf dem Monitorbild die Einblendung „Ein Prolog“ auf. Als der Regisseur den Namen Lumière aussprach, hob er den Blick vom Block und schaute nach oben, als wollte er die verblichenen Kollegen grüßen oder ehren. Und als die Rede vom Entsetzen der Zuschauer war, stellte jemand im Bildhintergrund, also hinter dem Monitor ein Lichtstativ auf, während ein anderer mit dem Maßband erst den Abstand zwischen der Nase des Regisseurs und der Videokamera maß, die dieses Bild und also diese Nase in ihm aufnimmt, und dann ein zweites Mal irgendeinen Punkt in Brusthöhe des im On sprechenden Regisseurs. Dieser beugte sich just da ein wenig zurück, als scheute er die Berührung durch den Messenden. Als er seinen Zweifel an der Wirkung des Films anmeldete, wurde die im Hintergrund aufgestellte Lampe angeschaltet, und als er auf die Reaktion der Menschen im Filmbild hinwies, wurde der kurze Film sichtbar schnell zurückgespult, ehe er verlangsamt noch einmal ablief, so dass man den Zeilensprung sah; die Zuspielung erfolgte eben noch nicht über einen digitalen Träger, sondern über einen analogen Beta- oder VHS-Spieler. Noch vor dem Schlusssatz endete die Einstellung. In der nächsten war vor dem ersten ein weiterer Monitor zu sehen, während rechts eine Kamera auf das Gesicht des Regisseurs gerichtet war. Der Monitor zeigt das Gesicht des Regisseurs aus der im Bild sichtbaren Kamera. Der Schlusssatz fällt. Die ersten 100 Sekunden des Films sind vorbei.
Eine komplizierte Versuchsanordnung, mit der
Das Kino, der Wind und die Photographie beginnt, und ein Spiel mit den Erwartungen, die man an einen Dokumentarfilm hegt: Eine Szene, in der die Inszenierung eines Kommentar-sprechens nach Anweisungen des Kommentators dokumentiert wird. So kompliziert, dass man die bedeutsame Bemerkung dieser Filmeröffnung 1991nur als ein Aperçu wahrnahm, dass nämlich die von fast allen Filmhistorikern verbreitete Geschichte von der Panik der ersten Lumière-Vorführung möglicherweise nicht stimme.
Doch dann rekonstruierte der Filmwissenschaftler Martin Loiperdinger fünf Jahre später die Umstände dieser erwähnten Vorführung der Lumière-Filme in Paris. Er studierte die Zeitungen, die von ihr berichteten. Er las die Polizeiprotokolle jener Tage. Und fand nirgendwo einen Hinweis auf eine Zuschauerpanik. Nach seiner umfassenden Recherche (niedergelegt im Aufsatz „Lumières
Ankunft des Zugs. Gründungsmythos eines neuen Mediums“) steht fest, die erwähnte Panik war und ist ein Phantasma. Erfunden übrigens nach Loiperdinger (und Martina Müller) von einem Physiker, der zwei Jahre später für die Verbesserung der Filmtechnik dergestalt warb, dass dann ein Eindruck entstünde, als ob die Lokomotive auf die Zuschauer zurase und sie zermalme. Die Propagandisten einer entstehenden Kinoindustrie und ihre erbittertsten Gegner eint dieses Phantasma. Die einen wollen ihm aus Reklamegründen eine solche Wirkung zuschreiben, die andere diese beschreien, weil sie fürchten, dass das Kinobild irgendetwas anrichten könne, egal einmal was. Hartmut konstatiert anschließend: „Die Wirkung eines Films und seine Wahrheit – von hier fallen sie auseinander. Und sie werden nie wieder eins.“
In der gerade vor sechs Wochen erschienenen deutschen Übersetzung des Romans „Infinite Jest“ („Unendlicher Spaß“) von David Foster Wallace aus dem Jahr 1996 kann man das Phantasma in seiner endgültigen Form studieren. Dort ist von einem Film die Rede, der den Betrachter so sehr fesselt, ihn aufwühlt und begeistert, dass er sich selbst vor ihm verliert. Während im Mythos der Anblick der Medusa den Menschen versteinerte, verflüssigt ihn der Anblick dieses in privaten Videokopien verbreiteten Films. Ob das frankokanadische Terrorkommando, das auf Rollstühlen operiert, das Masterband des Films in die Hände bekommt, um den definitiven Schlag gegen die USA, die hier ONAN heißen, auszuführen, verrät der Roman nicht. Er endet so, wie er beginnt: Mittendrin.
2.Ein Filmschluss: Gerade hatte der Regisseur, der eine Strickweste trägt, im On ein Zitat von Montaigne verlesen, als der Schnitt erfolgt. Nun sieht man zwei Schreibtischlampen in einer Großaufnahme, zwischen die eine Hand ein Foto hält. Es ist ein aus der Filmkopie von Fritz Langs
M herauskopiertes Einzelbild, auf dem der Schattenriss des möglichen Täters und der eines kleinen Mädchens mit einem Luftballon in der Hand auf einer Littfass-Säule zu sehen ist, auf der wiederum ein Plakat nach einem Kindermörder fahndet. Der vom Regisseur aus dem Off gesprochene Kommentar resümiert: „Wenn man alle Szenen zusammenzählt – das Töten, das Sterben, die Tode: dann ist ein enormer Bürgerkrieg im Gange.“ Die Musik von Bernhard Hermann setzt wieder ein. Und der Abspann des Films läuft.
45 Minuten sind vergangen, und der Regisseur hat Szenen aus 19 Spielfilmen vorgestellt, in denen Menschen sterben.
M war nicht darunter. Am Ende hat er die sehr lange Schlussszene aus
The Killing of a Chinese Bookie von John Cassavetes beschrieben, in der man im übrigen kaum sieht, wie die Hauptfigur Cosmo Vitelli von einer Kugel getroffen wird, sondern vor allem, wie er dieses Getroffensein überspielt: „Er hat eine Kugel im Leib und tut so, als würde das Leben ewig weitergehen.“ Sagt der Regisseur, der diese wie die anderen Filmszenen nicht in Ausschnitten zeigt, sondern mittels Fotos nacherzählt, die er aus den Kopien vergrößern ließ.
1988, als
Das Kino und der Tod für den Westdeutschen Rundfunk entstand, gab es zwar das privat-kommerzielle Fernsehen schon über drei Jahre, aber die Öffentlichkeit hatte es noch nicht recht bemerkt. Noch bestimmten ARD und ZDF das deutsche Fernsehen. Und diese zeigten Kriminalfilme in Maßen. Am Sonntagabend um 20.00 Uhr liefen im Ersten Programm neben dem „Tatort“ noch regelmäßig Kinofilme, im ZDF war am Freitag nur eine Krimiserie im Angebot. Der Freitagkrimi des ZDF hatte 1969 die Erfindung des „Tatort“ provoziert, der in der ARD vor allem deshalb so gut funktioniert, weil er der Eitelkeit aller Landesrundfunkanstalten entgegenkommt, je eigene Subreihen und Kommissare präsentieren zu dürfen. Legitimiert wird es dadurch, die Polizei ja Ländersache ist – wie der Rundfunk und damit das Fernsehen. Eine verblüffende Gemeinsamkeit. Heute kommt der „Tatort“ wöchentlich und er wird einmal die Woche zudem am Freitag um 21.45 Uhr wiederholt, wo er der längst eingeführten zweiten abendlichen ZDF-Krimireihe Konkurrenz machen soll. Die anderen Sender zogen nach. Heute laufen in der Woche über vierzig Krimireihen und –serien. Egal, wann man den Apparat anschaltet, wird ein Verbrechen begangen. Die Zahl der Fernsehtoten scheint unbegrenzt, der Mainzer Lerchenberg, auf dem ZDF sitzt, in Wirklichkeit ein Leichenberg. Und sind Serienredakteure nicht auch Serientäter?
Der Bürgerkrieg, von der Hartmut Bitomsky in einer steilen Metapher sprach, tobt sich längst auf dem Bildschirm aus. Je weiter der reale Tod und das tatsächliche Sterben den Menschen entrückt sind, desto näher ist ihnen das Sterben in Folge eines fiktionalen Verbrechens gekommen. Zu denken: Die Imagination des Sterbens infolge eines Verbrechens soll die Vorstellung eines siechen und senilen Dahinscheidens irgendwo in einem Heim bannen.
Eine Bemerkung zur Quellenlage: Den Text von
Das Kino und der Tod hatten wir in der Zeitschrift „Zelluloid“ abgedruckt, so wie die Zeitschrift „Filmwärts“ einen aus den Arbeiten am Film entstandenen eigenständigen Essay mit demselben Titel präsentierte. Beide Publikationen wie die Zeitschrift „Filme“ waren Versuche, ein Denken und Schreiben über Film, wie es Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und andere in der „Filmkritik“ vorgemacht hatten, auf eigene Weise zu betreiben oder fortzusetzen. Allen Projekten war kein langes Leben beschieden. Aber mit Rainer Rother („Filmwärts“), Jochen Brunow („Filme“) und mir („Zelluloid“) stehen heute drei Personen hier, die es zumindest versuchten. Damit es nicht wehmütig wird: Es gehört vermutlich dazu, dass Zeitschriften ihre jeweils eigene Zeit haben. Und „Revolver“ setzt auf nun schon seit einigen Jahren erneut fort, was Hartmut einst bei der „Filmkritik“ tat – die Reflexion über das Kino und den Film vorwärtszutreiben.
3.Eine Schlußsequenz: Zu sehen ein Parkplatz, auf dem die VW-Arbeiter ihre Wagen, die sie rabattiert erworben haben, gebraucht nach einem Jahr weiterverkaufen. Im Hintergrund steht die Fabrik. Der Kommentar des Regisseurs sagt aus dem Off, dass zehn Prozent der produzierten Wagen von der Belegschaft gekauft würde. Mit jedem Arbeitsplatz, der irgendwo abgebaut wird, gehe ein potentieller Autokäufer verloren. Noch einmal springt der Film in die Fabrik zurück. Zu sehen ist in der ersten Einstellung, wie eine Autokarosse von einem elektrischen Karren automatisch durch die Hallen gefahren wird. In der zweiten Einstellung ist der Karren an seinem Endpunkt angekommen. Dort wird die Karosse leicht angehoben, dann greifen Roboterarme von allen vier Seiten zu und setzen Schweißnähte. Es blitzt, und Funken sprühen. Die Roboterarme führen eine merkwürdige Bewegung vor, die man in einer dritten Einstellung von Nahem betrachten kann. Sie ist vorsichtig und langsam, wenn sie sich der Karosse selbst annähern. Und sie ist überaus schnell und wendig, sobald sich die Roboterarme von ihr entfernt haben. Ihre Berührung der Karosse hat etwas Zärtliches an sich. Ein Mensch ist in diesen drei Einstellungen nicht zu sehen. Der Kommentar spricht davon, dass nicht nur Arbeitsplätze, sondern die Arbeit selbst verschwindet. Was damit verloren gehe, sei gar nicht auszudenken.“
Nach Bildern, die zeigen, wie die Roboter hinter Gattern und Gittern gehalten arbeiten, folgt im Film
Der VW Komplex eine durchlaufende, durch Elisionen beschleunigte Einstellung vom Ende der zweiten Schicht um 22.30 Uhr: Die Arbeiter verlassen die Fabrik. Mit ihnen springt der Film nach Außen. Die Wolfsburger Innenstadt an einem Regenabend: Ein Schäferhund, der die Fußgängerzone durchstreunt. Große Straßenschachfiguren, die über Nacht hinter Gittern eingeschlossen sind. Obdachlose, die in einer Unterführung eine Plastikplane ausrollen, auf der sie schlafen werden. Ein Mann, der sein Rad schiebt. Sechs beleuchtete Telefonzellen nebeneinander, von denen nur die am rechten Bildrand besetzt ist. Regen, der über eine Plastikjalousie perlt. Und dann ein letztes Mal die Fabrik: Die Kamera schwenkt über die leere und nur wenig beleuchtete Montagehalle, als ein uniformierter Mann auf einem Fahrrad ins Bild kommt. Die Kamera schwenkt mit ihm zurück nach links. Nun zieht sich der Gang, auf dem der Mann mit dem Rücken zur Kamera fährt, bis zum oberen Bildrand. Der Mann lenkt mit der rechten Hand, mit der linken hält er ein Walkie-Talkie. Als er es zum Mund führt, gerät er ein wenig ins Schlingern. Die Geste, die er so beiläufig ausführen wollte, wirkt so als das, was sie ist: Demonstrativ für die Kamera ausgeführt.
Wenige Sekunden später sagt der Kommentar:
Gleich wird ein Mann quer durch die Montagelinien schlüpfen. Er ist über und über mit Werkzeugen behängt wie ein Guerillero mit Patronengurten über Kreuz. Er gehört zu Reparaturkolonne, die über Nacht tätig ist.
Das Bild wird unmittelbar nach diesem Satz geschnitten. Es wird schwarz. Der Film ist zu Ende.
Der Dokumentarfilm zeigt in der Regel, was zu sehen ist. Selten spricht er über das, was ihm verborgen blieb. Noch seltener über die Bedingungen über das, was er nicht zeigen konnte oder durfte Das Ende dieses Films
Der VW Komplex, also das Schwarzbild, das der Beschreibung des Mannes der Reparaturkolonne folgt, provoziert im Kopf des Zuschauers etwas, was nicht zu sehen war: Das Bild des (deutschen) Arbeiters als Guerillero. Und er stellt ihm die Frage, wie denn die Arbeitsgesellschaft ohne Industriearbeit funktioniere. Worauf es auch heute zwanzig Jahre später keine Antwort gibt. Nur die Gewissheit, dass im letzten Jahr eine andere Aktiengesellschaft mit Methoden der sanften Gewalt der Börse, gegen die jene der Guerilla harmlos zu nennen ist, versucht hat, die Volkswagen AG zu übernehmen. Wie die Erinnerung, was sonst noch in der Zwischenzeit aus Wolfsburg seinen Ausgang nahm. Auch Hartz IV ist Teil dessen, was der Film im Titel
Der VW Komplex nennt.
Wie das VW-Werk die Stadt bestimmt, die für es errichtet wurde, deuten einige Totalen des Spielfilms
Wolfsburg von Christian Petzold mit Nina Hoss in der Hauptrolle an. Die Schornsteine der Fabrik sind hier nur in weiter Ferne zu sehen und ziehen doch den Blick auf sich. Das Auto, um den sich die Geschichte des Films dreht, ist allerdings kein Volkswagen, sondern ein Ro 80 der Firma NSU.
4.Mitten aus einem Film: Es geht um die Bauten des Architekten Hans Scharoun. Die Kamera gibt sich, und das hat der Kommentar betont, alle Mühen, die Blicke zu rekonstruieren, die der Architekt in dem Wohnraum nicht nur zulassen, sondern provozieren wollte: Vom Arbeitsbereich zur Küche und zum Esstisch. Doch die Kamerabilder haben mit diesem Blick nichts gemein. Sie ähneln eher den Schemazeichnungen, auf denen der Architekt den Raum gegliedert und die Wände eingetragen hat. Doch dann tritt in den zwar bewohnten, aber leeren Raum ein Mensch. Er ist nur kurz gesehen. Am Avid, einem damaligen Schnittcomputer, wurde sein Hineinkommen und Heraustreten geschnitten und zudem ein- und ausgeblendet. Eine Geistererscheinung. Es geht nicht um diesen konkreten Menschen, der möglicherweise in diesem Haus zur Zeit der Produktionen dieses Films
Imaginäre Architektur – Der Baumeister Hans Scharoun wohnte. Es geht vielmehr um die Tatsache, dass irgendjemand dort lebte, dass die Architektur also einen Zweck erfüllet und dass dieser Zweck in der Aneignung des Raums durch den Menschen bestünde. Und es entsteht so die Vorstellung, dass eben dieser Mensch so in der Wohnung blickte und schaute, wie es Scharoun ermöglichen wollte.
Der Film, ob Spiel- oder Dokumentarfilm, erzählt weitestgehend im Indikativ. Selbst das Geträumte oder das Gelogene erscheint, als geschähe es tatsächlich. Einen filmischen Konjunktiv, der die Möglichkeit von etwas andeutet, aber eben nicht mehr, gibt es nicht. Doch in dieser Montage zeigt er sich. Die Einstellung, in der die Menschen kurz auftauchen und wieder verschwinden, gleicht einem erzählerischen Als-ob. Es war, als ginge ein Mensch durch diesen Raum.
5.Ein bearbeitetes Filmbild: Ein Stück aus einer „Wochenschau“, die den „ersten Spatenstich“ an einem Stück der Reichsautobahn festhält. Der Regisseur, der dieses Stück zitiert, hat ausgewählte Einzelbilder abfotografieren und vergrößern lassen. Diese blättert er nun durch und beschreibt das, was er auf ihnen sieht und was er über sie weiß:
23. September 1933 in Frankfurt am Main. Hitler macht den ersten Spatenstich. Er legt sich schwer ins Zeug. Er schaufelt und schaufelt und hört gar nicht mehr auf. Es sollte nicht wie eine symbolische Handlung ausschauen. Der Gauleiter dahinter will es ganz genau sehen. Jede Bewegung macht er in einer Gegenbewegung mit. Geht Hitler nach rechts, geht er nach links – eine kleine Pantomime der Doppelstrategie. Der Arbeiter neben Hitler arbeitet sich begeistert vor. Er droht ihn zu verdecken. Da nimmt ihn einer aus dem Hintergrund aus dem Bild. Vom Sand, den Hitler geschaufelt hat, erzählt man sich später Wunderdinge.
Das Verfahren, eine Filmeinstellung in einige ausgewählte Einzelbilder aufzulösen und so wie bei einer Sektion Details und Elemente freizulegen, hatte der Regisseur zuvor und auch später angewandt. An dieser kurzen Szene ist bedeutsam, dass sie nicht nur die Propaganda des „Wochenschau“-Berichts dekonstruiert, sondern zugleich die Situation, welche er abbildet und überhöht, analytisch freilegt. Auf den Fotografien, die der Regisseur durchblättert, ist zu erkennen, dass Hitler nicht nur so tut, als schaufele er. Er schaufelt, als stünde er wieder an der Front und als müsste er sich einen Unterstand graben, während sich der Feind nähert. Die Haare fallen ihm in die Stirn, er schwitzt. Diejenigen, die das beobachten, sind darob begeistert. Der Gauleiter, der die Bewegung mitgeht, kopiert sie spiegelbildlich, als wolle er die Einheit, in der er sich mit Hitler verbunden fühlt, szenisch ausdrücken. Doch anders als der Arbeiter, der sich in den Vordergrund schaufelt, in dem er nichts verloren hat, weiß der Gauleiter, dass sein Platz in der zweiten Reihe ist.
Das absurde Ballett des Gauleiters hatte einst Michail Romm in seinem Film
Der gewöhnliche Faschismus mit den Worten vorgeführt, „damit Sie Ihre Freude an dem Herrn hinter Hitler haben“. Er hatte den laufenden Film an den bezeichnenden Stellen angehalten und so das Einzelbild zur Kenntlichkeit getrieben. Während Michail Romm 1965 Bild für Bild mit dem Faschismus abrechnet, ihn in seiner Absurdität wie in seiner gnadenlosen Gewalt auf den Begriff bringt, legt Bitomsky 21 Jahren in
Reichsautobahn später frei, wie sehr die Nazis an ihre eigenen Lügen glaubten, beispielsweise dass Hitler wirklich Hand anlegte, die Reichsautobahn von ihm erfunden sei, und dass sie kriegswichtig wäre. Und er erinnert daran, dass die Fundierung der deutschen Volkswirtschaft auf die Autoindustrie erst in der Bundesrepublik geschah.
Exkurs: Der erste Essayfilm, der in Deutschland die Autoindustrie kritisch beleuchtete, ist Ein Mensch der zu Fuß geht ist verdächtig aus dem Jahr 1983. In ihm äußert sich auch der Sprecher einer Gruppe von Mercedes-Arbeitern, die bereits damals den Verbrenner-Motor ökologisch kritisierte und gegen eine auf der Autoindustrie basierende Nationalökonomie polemisierte. Es ist Willi Hoss, Vater jener Nina Hoss, die an diesem Abend nach mir den Text von Hartmut las. Den Film drehten (zusammen mit der Cutterin Regine Heuser) Edith Schmitt und David Wittenberg, die in den 1970er-Jahren mit Günter Peter Straschek befreundet waren und zusammenarbeiteten, der einst mit Hartmut an der DFFB studiert hatte. So wirkten Hartmut und David am Film Zum Begriff des “kritischen Kommunismus“ bei Antonio Labriola (1843-1904), den Straschek 1970 drehte, als Darsteller mit.Der VW Komplex hat die Analyse der Automobilindustrie und einer auf ihr ideologisch basierenden Gesellschaft parallel zu anderen Filmen, wie ich in einem Aufsatz zu den Filmen von David Wittenberg skizzierte, weiterentwickelt.
6.Montage im Bild: Im Film
Deutschlandbilder, den Hartmut Bitomsky zusammen mit Heiner Mühlenbrock 1983 drehte, hat er meines Wissens das Verfahren, mit Vergrößerungen von Einzelbildern zu arbeiten, das erste Mal angewandt. Die Fotografien werden hier zusätzlich zu Filmausschnitten gezeigt und zwar auf unterschiedliche Weise. Mal werden sie übereinandergelegt, dann hintereinander, so dass sie einen Weg bilden, den die Kamera abschwenkt. Schließlich ergeben sie vor Ende des Films ein Bodenmuster, als der Kommentar die Ergebnisse der Untersuchung der Kulturfilme der Nazizeit zusammenfasst. Die zuvor bereits verwandten Fotos aus den untersuchten Filmen werden zu diesem Zweck neben- und dann übereinandergelegt.
Der Kommentar sagt:
Man muß sich diese Bilder-Produktion vor Augen halten. Für jedes Bild gibt es eine übergeordnete Instanz: für die Arbeit – die Freizeit; für den Schmutz – das Duschen; für den Körper – der Stahl; für die Erschöpfung – den Arbeitsrausch; für die Begeisterung – die Disziplin; für die Massenkundgebung – die Geheimkonferenzen; für die Gesellschaft – die Naturgesetze; für das Wegschauen – die Ausreden; für den Krieg – die Arbeitslosigkeit; für den Materialfehler – den Sabotageverdacht; für das Sparbuch – den Millionär; für die Lebensmittel – den Süßstoff; für das Aktbild – die Uniform: für den Trennungsschmerz – die Schönheitskur; für die Evakuierung – den Lebenswillen. Man muss rasch schauen und genau hören: Bilder machen unkenntlich.
Bilder lassen sich nicht leicht aus der Welt schaffen und aus der Erinnerung tilgen. Aber man kann sie überlagern. Es gab eine Phase in Deutschland, in der wurde beispielsweise der texanische Ort Dallas unwillkürlich mit der Aufnahme eines Filmamateurs namens Zapruder identifiziert, die zeigt, wie Präsident John F. Kennedy der Kopf weggeschossen wird. Man kann die Erfindung und erfolgreiche Distribution der Fernsehserie „Dallas“ mit 356 Folgen als den Versuch nehmen, an die Stelle der Zapruder-Frames das Grinsen von Larry Hagman zu setzen, der die Hauptfigur der Serie namens JR spielte. Dass diese Figur dann nach 56 Folgen selbst angeschossen wurde und man mit der Frage, wer denn nun auf ihn geschossen habe, als Cliffhanger arbeitete, deutet an, dass die Aufnahme von Zapruder durch die bunten Bonbonbilder der Serienproduktion doch hindurchschimmerte.
Zu denken auch an die Fotografien von Thomas Demandt, die derzeit nicht weit von hier in der „Neuen Nationalgalerie“ zu sehen und die parallel in einem Buch publiziert sind. Wie Demandt bekannte Motive (und nur auf die beziehe ich mich hier) dadurch seziert, dass er sie in Pappe nachbaut und die Modelle mit Lichteffekten versehen abfotografiert. Das Bild „Badezimmer“ von 1997 beispielsweise, das auf einem Foto des damaligen „Stern“- und heute „Spiegel“-Reporters Sebastian Knauer basiert, zeichnet sich durch Reduktionen und Erweiterungen aus. Es fehlt die Leiche von Uwe Barschel, der sich in einer Badewanne des Hotels „Beau Rivage“ in Genf das Leben nahm, und der rechte helle Duschvorhang ist weiter vorgezogen. Das Badewasser, das auf Knauers Foto klar und deshalb durchsichtig ist, hat Demandt als eine trübe, von Seifenresten bestimmte Fläche dargestellt. Im Museumskontext löst das Hochformat, das 160 mal 122 Zentimeter misst, eine zweifelnde Irritation aus; man kennt das Bild und man kennt es nicht. Ein Gedanke: Sich der Mühe zu unterziehen, das Verfahren, wie es Hartmut Bitomsky für den Film erkenntnisstiftend entwickelt hat, mit anderen bildanalytischen und –transformierenden zu vergleichen etwa bei Hans-Peter Feldmann, Joachim Schmid, auch Gerhard Richter („Atlas“). Herauszuarbeiten, worin der besondere artifizielle Reiz liegt, der von den Fotografien der Einzelbilder ausgeht!
7.Noch ein Filmschluß:Am Ende von
Deutschlandbilder spricht der Kommentar davon, dass es nach dem Krieg in Deutschland keinen Bildersturz gegeben hätte. Gewiss, die Insignien der Macht wurden entfernt, das Parteitagsgelände in Nürnberg teilweise gesprengt, die Propagandafilme verboten. Aber selbst viele kritische Filme über die Nazizeit lebten lange Zeit von den Bildern der NS-„Wochenschau“ und der Kulturfilme, die sie neu montierten und mit einem kritischen Kommentar versahen. An den Kern der Faszination reichten sie so ebenso wenig heran, wie die Fotografien der Opfer aus den Konzentrationslagern, die mit wenigen Ausnahmen von den Tätern selbst stammten, etwas von ihren Traumata und ihrem Sterben eben dort preisgaben. Wie sich ein Bildersturz vorstellen ließe, darüber verrät der Film nichts. So beeindruckend die Vorstellung ist, es bleiben Zweifel. Stimuliert die Kargheit evangelischer Kirchen nicht die Lust auf den Prunk des Katholizismus? Und lockt nicht hinter jedem Bilderverbot ein goldenes Kalb?
8.Landschaftsbilder: In
Highway 40 West von 1981 richtet sich die 35mm-Kamera von Axel Block an vielen Stellen gleichsam befreit auf, um die Straße, der dieser Film von der Ostküste bis nach San Francisco folgt, in ihrer Erstreckung bis zum Horizont zu zeigen. Es sind Landschaftstotalen, in denen der Kinozuschauer aus dem Staunen nicht herauskommt, selbst wenn er diese Landschaften schon durchquert hat. Dass der Film sich gleichzeitig für das Detail interessiert, ob es sich um eine Hamburger-Mahlzeit, ein besonderes Gewehr, eine Wohnwagensiedlung, eine Band am Straßenrand in Frisco handelt, steht zu diesen Landschaftsbildern nicht im Gegensatz. Man könnte diese als eine Grundform des Kinos nehmen und Spuren davon beispielsweise in den Filmen von James Benning finden, der sie nur nicht nach der Linie einer Straße aufnimmt, sondern nach der Gemeinsamkeit von Seen (
13 Lakes) oder Zügen (
RR) montiert. Es sind Einstellungen, in denen das Auge im Kino und vielleicht wieder vor einem großen Flatscreen wandern kann und noch die kleinste Bewegung in ihm entdeckt, ob es sich nun um ein Fahrzeug handelt, das die Straße kreuzt, oder um einen Schatten, der von einer Wolke geworfen wird. Bilder, die auf die Eigentätigkeit des Zuschauers setzen und das Betrachten lohnen.
In vielen der Filme von Hartmut Bitomsky nach
Highway 40 West gibt es solche Totalen, doch in Europa und in Deutschland ist der Blick rasch begrenzt, zugebaut oder eingeschränkt. Und so könnte man die Bilder aus den USA, die ja in den erwähnten Details deren Gewaltverhältnisse wie ihre Gewaltgeschichte nicht unterschlagen, als eine Art Befreiung deuten. Der Film ist darin und in seiner Bewegungsform einem Text wie Peter Handkes „Der kurze Brief zum langen Abschied“, der 1972 erschien, nicht fern. Man könnte auch auf spätere in den USA spielende Reiseromane verweisen wie „The Church of John F. Kennedy“ von Thomas Meinecke (1996) oder „Woraus wir gemacht sind“ von Thomas Hettche (2006). Vom Handke-Text unterscheidet der Bitomsky-Film sich durch seine dokumentarische Haltung, die mehr und anderes und auch Kontingentes einfließen lässt und akzeptiert, also auch etwas in die filmische Erzählung integriert, was nicht mit der Befindlichkeit des Erzählers/Autors identisch ist. Die dokumentarische Form ist porös und eben nicht hermetisch wie etwa die Romane von Handke.
Am Ende von „Der kurze Brief zum langen Abschied“ trifft der Erzähler John Ford in dessen Haus in Bel Air, was überrascht, da der Regisseur zum Zeitpunkt der Romanerzählung, schon verstorben war- Hartmut Bitomsky publizierte 1978 (unter Mitarbeit von Martina Müller) mehrere große Aufsätze über Ford. In einem heißt es über ihn: „Geschichten, die er über sich erzählte, waren wie Geschichten, die er jemandem aufband, eine Distanzierung.“ Bei Handke sagt Ford, er spräche wie alle Amerikaner immer von „wir“, wenn er über Privatsachen rede. Und so sagt er denn auch: „Wir träumen kaum mehr. (…) Und wenn, dann vergessen wir es.“
Hartmut Bitomsky ist in fast all seinen späten Filmen gelegentlich im Bild zu sehen und in jedem dieser Filme ist seine unverwechselbare Stimme zu hören. Das ist ihm als Eitelkeit mitunter angekreidet worden. Man kann es auch anders sehen: Die Person Hartmut Bitomsky verschwindet gleichsam hinter der Figur, die in seinen Filmen auftaucht, Fotos in die Kamera hält, mit Menschen spricht und Sachverhalte kommentiert. Sie ist dort eine Instanz, die verbürgt, was der Film zeigt und der Kommentar sagt. Aber die Person selbst schweigt.
Vielleicht war die Person, das Individuum, das Subjekt Hartmut B. in seinem Spielfilm
Auf Biegen oder Brechen, in dem er weder zu sehen noch zu hören war, stärker präsent als in seinen Dokumentarfilmen, in denen man ihn gelegentlich sieht, oder in den Videoessays zur Filmgeschichte, in denen er als Figur der Selbstinszenierung vor der Kamera agierte. Beleg dafür wäre, dass er vor allem in den Texten als Person aufscheint, in denen von seinen gescheiterten und verhinderten Filmen die Rede ist. In diesen persönlichen Texten artikuliert er wie ein Berserker. Aber seine wütend verfassten Pamphlete treffen ihren Gegenstand häufig. „Sendeanstalten halten sich Freie Mitarbeiter. Ameisen halten sich Blattläuse. Sie mögen deren Saft.“ Heißt es im Text „Das Ende eines Films“, der 1978 in der Zeitschrift „Filmkritik“ erschien. Der Text geht weiter mit einem Hinweis auf das Prognoseverfahren, mit dem sich die öffentlich-rechtlichen Sender gegen das Einklagen von Freien Mitarbeiter auf Festanstellung zu schützen suchen. Dann heißt es:
“Aber ich will doch gar nicht eingestellt werden,“ beteuerte ich mit aufrichtigem Nachdruck. “Das sagen Sie jetzt“, erwiderte der Mann, “aber in fünf Jahren, wenn Ihnen nichts mehr einfällt, dann wollen Sie bei uns angestellt werden.“ Der Mann, der mir das sagte, verstand, wovon er sprach. Er selbst war angestellt beim Sender.
Doris Heinze, die ihre Karriere einst beim Filmbüro Nordrhein-Westfalen begann, in die sozialdemokratische Rundfunkpolitik geriet und von dort über ein Produktionstrainee zum Norddeutschen Rundfunk transferiert wurde, wo sie viele Jahre die Fernsehfilmabteilung leitete, hat am Ende die Drehbücher jene
romantischen Komödien, die sie für ihr Programm unbedingt haben wollte, kurzerhand selbst geschrieben. Und damit sie davon auch profitierte, erfand sie Pseudonyme, die dann als
freie Mitarbeiter die Honorare dafür einstrichen. Alles unter den Augen einer
Prognose-Abteilung des Senders
, die anscheinend nichts sah, da ja die Pseudonyme sich nicht einklagen konnten, da sie in Gestalt der Chefin schon festangestellt waren. In Doris Heinze hat sich das öffentlich-rechtliche Fernsehsystem, wie es Hartmut in dem zitierten, 31 Jahre alten Text attackierte, auf eine finstere Weise selbst vollendet. Diejenigen wie Werner Dütsch, der mit Enthusiasmus die Filme von Hartmut und anderen begleitete und stützte, sind pensioniert. Noch gibt es Enthusiasten in vereinzelten Fernsehredaktionen, aber das Sagen haben meist die anderen.
Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen: Ich mag das Fernsehen als ein auch triviales Medium, weshalb ich heute ein wenig darunter litt, Demandt-Fotografien zu betrachten statt der Live-Übertragung der Partie Borussia Dortmund gegen Schalke 04 zu folgen und meine bildanalytische Anstrengung nicht der Frage widmen zu können, ob der Schuss von Barrios nun die Torlinie überquerte oder nicht. Deshalb glaube ich nicht an den grundsätzlichen Niedergang dieses Mediums. Ich stelle aber die Ent-Intellektualisierung der öffentlich-rechtlichen Sender fest und die Entfernung der Bildkünste aus ihnen. In der schieren Popularisierung lauert aber ihr Wärmetod.
Nicht verschwiegen sei, dass Hartmut Bitomsky in dem gerade zitierten Text aus dem Jahr 1978 an einer Stelle von den deutschen Autobahnen so trivial spricht, wie man es damals tat.
Reichsautobahn von 1986 ist also auch der Ausdruck einer Selbstkorrektur.
Es sei auch seine damalige Bemerkung nicht unterdrückt, dass die „Filmkritik“ damals im „Arsenal“ weggeschlossen würde und ihr ein Verkaufstisch verwehrt worden wäre. Die heutige Veranstaltung im heutigen „Arsenal“ ist, das weiß ich, nicht die erste, aber vermutlich die definitive Korrektur der damaligen Vorsichtsmaßnahme gegen wild fluktuierende berserkerhafte Texte.
9.Eine lange Einstellung: Nach weiten Teilen des Films
B-52 steigt die Kamera vermutlich in einem Helikopter auf und fliegt zunächst seitlich erst an einer, dann an weiteren Maschinen jenes Flugzeugs vorbei, dem sich der Film widmet. Sie gewinnt langsam Höhe, so dass im Abstand eine dieser großen Maschinen zunächst in der Querachse, dann auch längs ins Bild passt. Schließlich nach einem Bogen und weiterem Anstieg sind erst zehn, dann zwanzig, schließlich mehr als 40 Maschinen zu sehen, die in einem engen, ausgeklügelt wirkenden Abstand nebeneinander und in Gruppen gegeneinanderstehen. Am Ende der Einstellung bilden die Flugzeuge in der extremen Aufsicht ein Ornament, ein Zeichen, das keine Bedeutung trägt und doch die Augen reizt, die vom Detail des einzelnen Flugzeugs zum Muster, das sie auf dem Boden zeigen, vor- und zurückspringen.
Dieses Bild hatte man schon vor dem Film in einem Roman entdecken können. In Don DeLillos Roman „Underworld“ beispielsweise, der 1997 veröffentlicht wurde und 1998 als „Unterwelt“ auf Deutsch erschien. Hier beschreibt der Ich-Erzähler, wie er einen Hügel erklimmt, von wo er einen guten Blick auf die Flugzeuge haben würde, folgendes:
Ich hatte nicht gewusst, dass es so viele Flugzeuge waren. Ihre Anzahl verblüffte mich. Sie waren in acht taumeligen Reihen aufgestellt, ein paar scherten an den Rändern aus. Ich zählte sie bis zur letzten Maschine, während die Sonne höher stieg. Da standen zweihundertdreißig Flugzeuge, mit ausgebreiteten Flügeln und Flossen wie Tiefseekreaturen, einige zum Teil bemalt, andere beinahe fertig, viele noch gar nicht mit Farbspritzern in Berührung gekommen und sie waren kriegsschiffgrau oder in verblassten Tarnfarben gestrichen und vom Sandstrahl bis zum schieren Metall abgeschliffen.
Wenig später gibt der Erzähler zu: „Ich hatte nicht erwartet, mit soviel Vergnügen und Erregung zu reagieren.“ Vielleicht wollte Hartmut Bitomsky „Vergnügen und Erregung“ der Zuschauer beim Betrachten dieser Einstellung zumindest erschweren. Über den Anfang legt er den Schluß eines Gespräches mit einem ehemaligen Flugzeugtechniker, dessen Sätze man angesichts der beeindruckenden Totale allerdings vergisst. Nur für einen kurzen Augenblick ist eine Art fingierter Originalton aus der Wüste zu hören, da meldet sich der Regisseur schon mit dem Kommentar wieder zu Wort. Während man die Maschinen im Bild in immer größerer Zahl bestaunt, verweist er auf die über 100 Flugzeuge, die eben hier nicht zu sehen sind, weil sie abgeschossen wurden und abstürzten. Die, die man im Bild da sähe, warteten darauf, verschrottet zu werden. „Der Druck der militärischen Produktion schiebt seine Erzeugnisse wie eine gewaltige Endmoräne aus Schrott vor sich her.“ Zu hören ist, wie sich der Kommentar alle Mühe gibt, einen bildhaften Vergleich auszuprägen, der ein wenig von der Wirkung der Totalen nimmt.
In der folgenden Szene verfolgt die Kamera geradezu genüsslich, wie einzelne Maschinen durch einfache mechanische Operationen geteilt, dann mit übergroßen Operationszangen zerschnitten und schließlich in viele Kleinteile aufgelöst werden. Diese Szene kann man als Reaktion auf die Überwältigung durch die Ansichtstotale deuten. Und die Montage, die diese Szene auf die Totale folgen lässt, kann mal als beispielhaft dafür bezeichnen, mit der Hartmut Bitomsky den Gegenstand seines Films in der Ambivalenz belässt. Eine eigene Position muss sich der Zuschauer selbst erarbeiten. Sie wird ihm nicht wie einst ein Stirnband beim Film
Woodstock von Michael Wadleigh oder eine Illustrierte im einstigen Pornokino als Dreingabe geschenkt. Manche sind darob überfordert. Das haben sie dem Film angekreidet.
Angesichts der erwähnten Romane von Don DeLillo und David Foster Wallace wäre an eine Studie zu denken, die untersuchte, wie das Kino und das Fernsehen in die Gegenwartsliteratur hineinwanderte und was es dort anrichtete. Ein Qualitätskriterium, dem eben die beiden genannten absolut genügen, wäre, wie genau sie die Bilder beschrieben und ihre Produktionsbedingungen kennten. Ein Qualitätskriterium, das aus der Arbeit von Hartmut Bitomsky erwächst.
10.Ein Pausenbild: Nach einer Viertelstunde des Films
Staub ist in einer Naheinstellung zu sehen, wie eingeschmolzener Goldstaub aus dem Feuer genommen und hellglänzend in einen Behälter ausgegossen wird. Es zischt und dampft.
Der Kommentar sagt:
Man denkt, Goldstaub sei so flüchtig wie das Glück. Ein Atemzug, und es weht ihn davon. Tatsächlich aber hat er ein schweres Gewicht. Er schwebt nicht. Er fällt herab wie Regen im Wolkenbruch.
Nach dem zweiten Satz wird die Einstellung geschnitten. Es folgt eine Nahaufnahme von Starkregen, an die sich das Bild eines Hofes reiht, von dem eine Treppe zu einer Straße hinunterführt, an deren gegenüberliegender Seite ein Haus verbarrikadiert erscheint. Es regnet weiter heftig. Die Tropfen spritzen so stark, dass sie im Aufprall Blasen werfen. (Ein ähnliches Bild hat Thomas Demandt in seinem Video
Rain nachgebaut und animiert.) Nach einem Kamerasprung in Richtung Treppe ist die Oberfläche des Hofes ein kleiner See, auf dem das Wasser sich in Strudeln bewegt. Nach einer weiteren Einstellung des Hofes ist eine Landschaftstotale zu sehen. Es regnet nicht, es ist dunstig. Am Horizont hinter einem Kirchturm kommt aus vier Schornsteinen und einem Kühlturm dicker weißer Dampf, der in Wolkenformationen nach links oben wegzieht.
Der Kommentar sagt:
In jedem Regentropfen ist ein Staubkorn eingeschlossen. Es braucht ein gewisses Maß von Staub in der Luft, damit die Feuchtigkeit kondensiert und Wolken am Himmel bildet. Ohne den Staub in der Atmosphäre gäbe es den Himmel nicht. Er wäre farblos. Kein Blau, kein Grau, keine Abendröte.
Die Kamera war einmal an die Türme heran gesprungen, dann noch einmal ein kleines Stück zurück. Ein Lob auf das Zoomobjektiv, das ein solches willkürliches Heranrücken ermöglicht.
Am Ende ist ein Stück Himmel zu sehen. Graue und blaue Farben mischen sich. Im Ton regnet es erneut. Zu denken ein Himmel, den man nicht sähe und der deshalb nicht existierte. Der Film geht weiter. Die Pause bleibt haften.
Zum Schluss:Meine zehn kurzen Momentaufnahmen haben die Qualität der Filme und Texte von Hartmut Bitomsky herauszuarbeiten versucht: Die skeptische Intellektualität, das Bildvermögen und die Beobachtungsgabe, der skrupulöse Umgang mit Kamera, Mikrophon und Montage, die Texte so bar jeden Klischees und Gemeinplatzes, die Klarheit der Gedanken, die provokative Didaktik, die auf das Selbstdenken setzt und dieses stimuliert, der Kino-Enthusiasmus kennzeichnen den Filmregisseur, den Schriftsteller, den Lehrer Hartmut Bitomsky.
Dass es auch den Lehrer Bitomsky charakterisiert, weiß ich aus der Anschauung nicht nur aus diesem Sommer in Köln. Im Dialog mit Studierenden kennzeichnen ihn die Anstrengung des Begriffs, die Unbedingtheit des Urteils, aber auch die Beharrung, Dinge mit Verve anzugehen und nicht verhuscht, und ein mitunter aus ihm herausbrechender Witz. Ich weiß also, was die DFFB heute verliert.
Ich wünschte mir, dass die Filme von Hartmut nicht nur in den erwähnten 35-Kopien, die ja über die Stiftung Deutsche Kinemathek zu entleihen sind, zur Verfügung stehen, sondern eines Tages auch in einer DVD-Edition. Wie ich mir wünschte, dass seine Filmtexte erneut und diesmal in einer umfassenden Ausgabe herausgegeben würden. Damit Sie all das selbst sehen und lesen können, von dem ich Ihnen hier ein wenig ungelenk ein Abbild zu zeichnen versuchte.
Damit will ich es bewenden lassen. Nur etwas fehlt noch, was Du, Hartmut, vermutlich schon seit 30 Minuten mit Bangen erwartet hast. Denn in fast jedem meiner Texte über Hartmut Bitomsky schlich sich stets Neil Young hinein. Zu erläutern, wie und weshalb das geschah, würde zu weit führen. Nur zu erwähnen ist, dass Hartmut davon nicht immer begeistert war. Biographie und Werk von Young ist ja manch wunderliche Wendung eigen. So hätte ich diesmal darauf verzichtet. Doch dann kam in diesem Sommer nicht nur – wie erwähnt – Hartmut Bitomsky, sondern wenige Tage zuvor auch Neil Young nach Köln. Er spielte sich im Rheinpark
open air – ähnlich wie auf der Live-Platte „Weld“ von 1991 – bei einem Song so grandios in Rage, dass er sich die Strickweste, die er trug, berserkerhaft vom rechten Arm riss, weil sie sein E-Gitarrenspiel behinderte. Und genau solch eine Weste hatte ich zwei Tage zuvor gesehen – an Hartmut Bitomsky in
Der Kino und der Tod. Und kamen mir nicht auch der Gestus des Zorns und der Eigensinn in der künstlerischen Arbeit so bekannt vor? Deshalb sei es mir ausnahmsweise gestattet, mit einem Zitat von Neil Young aus „Rust never sleeps“ von 1979 zu schließen:
„Hey hey, my my – Rock and roll will never die!“
Dietrich Leder
Dietrich Leder, geb. 1954 in Essen. Nach dem Studium der Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Pädagogik und Philosophie in Köln Arbeit als Publizist für Tages- und Wochenzeitungen (Kölner Stadt-Anzeiger, FAZ, Süddeutsche Zeitung, Spiegel), Fachzeitschriften (Medium, Zelluloid, Funkkorrespondenz), Hörfunk (WDR, RB, DLF) und Fernsehen (WDR, 3sat) sowie als Dokumentarfilmer. Von 1994 bis 2021 Professor für Fernsehkultur an der Kunsthochschule für Medien Köln. Lehrgebiet: Dokumentarfilmpraxis, Mediengeschichte, Fernsehformate. Von 1997 bis 2000 sowie von 2004 bis 2006 Prorektor für Forschung und Lehre an der KHM.
Film- und Literaturangaben (alle in der Reihenfolge ihrer Erwähnung):
1) Filme von Hartmut Bitomsky:
Das Kino und der Wind und die Photographie. Sieben Kapitel über den dokumentarischen Film. 1991
Das Kino und der Tod. 1988
Der VW Komplex. 1989
Imaginäre Architektur – Der Baumeister Hans Scharoun. 1993
Reichsautobahn. 1986
Deutschlandbilder (Zusammen mit Heiner Mühlenbrock). 1983
Highway 40 West. Eine Reise in Amerika. 1981
Auf Biegen oder Brechen. Spielfilm. 1975
B-52. 2001
Staub. 2007.
2) Weitere erwähnte Filme:
Wolfsburg. Spielfilm von Christian Petzold. 2003
Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof von La Ciotat. Vue der Firma Lumière. 1895
M – Eine Stadt sucht einen Mörder. Spielfilm von Fritz Lang. 1931
The Killing of a Chinese Bookie. Spielfilm von John Cassavetes. 1976
Der gewöhnliche Faschismus. (Originaltitel: Obyknowenny Faschism). Dokumentarfilm von Michail Romm. UdSSR 1965
13 Lakes. Dokumentarfilm von James Benning. USA 2004
RR. Dokumentarfilm von James Benning. USA 2007
Woodstock – 3 Days of Peace & Music. Dokumentarfilm von Michael Wadleigh. USA 1970.
Rain. Video von Thomas Demandt. Vgl.
http://www.thomasdemand.de/
3) Zitierte Texte von Hartmut Bitomsky:
Das Kino und der Wind und die Photographie. Sieben Kapitel über den dokumentarischen Film. Filmtext. In: Jutta Pirschtat (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Bilder. Der Filmemacher Hartmut Bitomsky. Essen 1992, S.107-116, hier: S. 107.
Das Kino und der Tod. Filmtext. In: Zelluloid Nr. 30, Köln Januar 1990, S. 4-25, hier S. 24.
Das Kino und der Tod. In: Filmwärts Nr. 15/16, Hannover 1990, S. 47-50. Zit. n. Elke Schaarschmidt (Hrsg.): Hartmut: Bitomsky: Kinowahrheit. Berlin 2003, S. 24-31.
Der VW Komplex. Filmtext. Zit. n. einem Mitschnitt seiner Fernsehausstrahlung 1989.
Reichsautobahn. Filmtext. Zit. n.: Jutta Pirschtat (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Bilder. Der Filmemacher Hartmut Bitomsky. Essen 1992, S. 64-85, hier: S. 65.
Deutschlandbilder. Filmtext. Zitiert nach: Jutta Pirschtat (Hg.): Die Wirklichkeit der Bilder. Der Filmemacher Hartmut Bitomsky. Essen 1992, S.51-63, hier: S.60 bzw. S. 62.
Gelbe Streifen. Strenges Blau. Passage durch Filme von John Ford. (Mitarbeit Martina Müller). Einleitung und erster Teil. In: Filmkritik 258, München Juni 1978, S. 281-335, hier: S. 283.
Das Ende eines Filmes. In: Filmkritik 257, München Mai 1978, S. 234-247, hier S. 247.
B-52. Filmtext. Zitiert nach einem Mitschnitt seiner Fernsehausstrahlung 2001.
Staub. Filmtext. Zitiert nach einem Mitschnitt seiner Fernsehausstrahlung 2008.
4) Weitere Literatur:
Martin Loiperdinger: Lumières
Ankunft des Zugs. Gründungsmythos eines neuen Mediums. In: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films. Band 5. Frankfurt am Main 1996. S. 37-70.
David Foster Wallace: Unendlicher Spaß. Roman. Köln 2009
Thomas Demand: Nationalgalerie. Bildlegenden von Botho Strauß. Göttingen 2009.
Dietrich Leder: Nachwort. In: Irma Wittenberg (Hrsg.): David Wittenberg. Film und Text. Tbilissi 2020. S. 401-422.
Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied. Roman. Frankfurt am Main 1972.
Thomas Meinecke: The Church of John F. Kennedy. Roman. Frankfurt am Main 1996.
Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind. Roman. Köln 2006.
Don DeLillo: Unterwelt. Roman. Köln 1998, S. 99.
Neil Young: Hey hey, my my (Into the Black). Songtext. Zit. n. Textbeilage der Schallplatte „Rust never sleeps“. 1979.
5) Erwähnte Schallplatten:
Neil Young & Crazy Horse: Weld. 1991
Neil Young & Crazy Horse: Rust never sleeps. 1979.
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DIETRICH LEDER: IN ERINNERUNG AN HARMUT BITOMSKY – ZEHN ÜBERLEGUNGEN (2009) first appeared on
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