Kritik der "Thesen über die autoritäre Linke" der Basisgruppe Antifa
These 5: Autoritär und Antiautoritär
Die Basisgruppe Antifa konstruiert in These 5 ein Spektrum zwischen "autoritär" und "antiautoritär", die auf zwei Polen der Gesellschaftsauffassung beruht: einem strukturalistischen Pol – "die einseitige Auflösung der gesellschaftlichen Totalität in Richtung des Zusammenhangs" – und einem individualistischen Pol – "die einseitige Auflösung der gesellschaftlichen Totalität in Richtung des Individuums".
Es ist unstrittig, dass Gesellschaft sowohl die Summe des Verhaltens ihrer Individuen ist als auch die Individuen durch die Gesellschaft geprägt werden. Die Differenzen innerhalb der Linken liegen in der Vorstellung der sozialen Transformation: Sollten zuerst die gesellschaftlichen Zusammenhänge verändert werden, wobei die Veränderung der Individuen entweder ausbleibt oder als nachgelagertes Resultat erfolgt? Oder sollten zuerst die Individuen verändert werden, wobei die Veränderung der Zusammenhänge entweder ausbleibt oder als nachgelagertes Resultat erfolgt?
Die Basisgruppe Antifa setzt diese Achse fälschlicherweise mit der Achse "autoritär-antiautoritär" gleich. Eine strukturalistisch geprägte Praxis ist jedoch nicht zwangsläufig "autoritär", und eine individualistisch geprägte Praxis ist nicht zwangsläufig "antiautoritär". Dieser Ansatz erweist sich somit als ungeeignet für eine empirische und inhaltliche Bestimmung der kommunistischen Strömungen, die ich im Folgenden als "avantgardistische Linke" bezeichne.
Strukturalismus außerhalb der avantgardistischen Linken
Eine Transformationstheorie, die bei den Zusammenhängen ansetzt und eine vorgängige Transformation des Individuums auslässt, findet sich nicht nur in avantgardistischen Strömungen, sondern auch im Reformismus sowie im Kooperativismus. Kapitalistische Beziehungen zwischen Individuen sollen einerseits durch Reformen abgeschafft und andererseits durch Konkurrenz auf dem Markt verdrängt werden. Eine explizite Transformation des Individuums wird dabei nicht angestrebt.
Außerdem gibt es noch die Strömung des "strukturalistischen Marxismus", maßgeblich geprägt durch Louis Althusser und Nicos Poulantzas. Diese Theoretiker leisteten bedeutende Beiträge zur (kritischen) marxistischen Staatstheorie. Auch daher ist es unzutreffend, die "Reduktion des Staates auf seine Funktion als Gewaltapparat" als ein Beispiel strukturalistischen Denkens anzuführen. Selbst eine anarchistische Staatskritik ist strukturalistisch und setzt keineswegs bei der Veränderung von Individuen an.
Individualistischer Autoritarismus
"Policing", d.h. die Durchsetzung "korrekten" Verhaltens auf individueller Ebene, ist ein Beispiel für individualistischen Autoritarismus. Dies kann mit oder ohne formelles Amt geschehen. Im letzteren Fall kann dies zu einer Hexenjagd-Mentalität führen, wie sie etwa beim Phänomän "Cancel Culture" oder dem identitären "Klassenkampf" der chinesischen Kulturrevolution zum Ausdruck kam, bei der studentische Mobs Leute beschuldigten, klassische Musik zu hören, von Vermietern abzustammen, etc. (
https://youtu.be/8jEMlFCaI04?si=tf6OCsR7EppIxRGA&t=1953 )
These 7: Lenin
Auch im nicht-"autoritären" "westlichen Marxismus" finden sich positive Bezüge auf Lenin (Adorno, Gramsci) und Mao (Althusser, Badiou). Daher wäre die Bezeichnung "avantgardistische Linke" oder auch "östlicher Marxismus" treffender.
These 8a: Der Voluntarismus
Die Implikation, Voluntarismus – die "Überbetonung des Subjektiven" – sei ein Alleinstellungsmerkmal der strukturalistischen Linken im Gegensatz zur individualistischen Linken, ist irreführend. Gerade die individualistische Linke zielt darauf ab, "richtige" Subjekte zu schaffen und zu "Reflexion" und "solidarischem Verhalten" anzuregen.
Fazit
Die Gleichsetzung von "Autoritarismus" und Strukturalismus ist nicht haltbar. Die Realsozialismen scheiterten am "Autoritarismus" – d.h. an formellen Strukturen und insbesondere an privilegierten Ämtern – in ähnlicher Weise, wie ein zu schweres Flugzeug an zu großen Triebwerken scheitert: Es ist unsinnig, sich infolge dieses Misserfolgs als "Anti-Triebwerk"-Luftfahrtingenieur:in zu bezeichnen, da ein Flugzeug nicht nur an zu großen, sondern auch an zu kleinen Triebwerken scheitern kann. Eine Organisation kann
nicht nur an einem Übermaß, sondern auch an einem Mangel an formellen Strukturen und sogar privilegierten Ämtern scheitern, d.h. sich verselbstständigen, ihrem vorgesehenen Zweck nicht mehr nachkommen und in dieser Hinsicht unreformierbar werden. Zusätzlich zu diesem Scheitern gibt es noch das Scheitern, ungenügende Macht aufzubauen und die Gesellschaft schlicht nicht zu verändern.
Abschließend möchte ich ein Zitat aus Rodrigo Nunes’s "Neither Vertical nor Horizontal: A Theory of Political Organisation" (
Zusammenfassung und Highlights) anführen, das eine kritische Einordnung des Avantgardismus bietet:
Wenn Individuen keine Automaten sind, die einheitlich und geschlossen auf eine Veränderung ihrer Umwelt reagieren, findet eine Veränderung des kollektiven Verhaltens niemals auf einmal statt, sondern muss von einem oder mehreren Punkten ausgehen. Es ist gerade weil Individuen einzigartig sind, jede:r mit ihren eigenen Dispositionen und externen Beziehungen, anstatt identisch konditioniert zu sein, dass ‚die Bildung jedes Prozesses durch Ausbreitung von einem Punkt aus nicht in Zweifel gezogen werden kann‘. Wo es keine bereits existierenden Entscheidungsverfahren oder Strukturen gibt, um Handlungen zu koordinieren, geschweige denn formell ernannte oder anerkannte Führer:innen, kann ein neues kollektives Verhalten nur durch die Handlungen eines oder mehrerer initiierender Knotenpunkte entstehen (Nukleation). Wenn etwas als ‚spontan‘ bezeichnet werden kann, dann ist es dies. [Wenn sich analog dazu das Klassenbewusstsein] Schritt für Schritt entwickelte, anstatt sich auf einmal im gesamten Proletariat zu verwirklichen, bedeutete dies, dass es irgendwo beginnen musste, sich von dort aus ausbreitend und entfaltend. Es oblag dann denen, bei denen es sich früher entwickelte, den kollektiven Lernprozess zu erleichtern, indem sie den Weg nach vorne beleuchteten und diejenigen, die zurückblieben, auf den neuesten Stand brachten. [...] Die Anerkennung der intrinsischen Relationalität des Konzepts [Avantgarde] kann uns jedoch nicht blind dafür machen, dass die Probleme, die damit verbunden sein würden, bereits in der Verbindung zwischen historischer Notwendigkeit, dem Wissen um diese Notwendigkeit und der Avantgarde als dem Punkt, an dem dieses Wissen am stärksten konzentriert ist, vorweggenommen werden. Diese logische Abfolge bedeutet, dass der Abstand zwischen der Avantgarde und dem Rest (den Massen, anderen potenziellen Avantgarden) nicht horizontal gemessen wird, als eine Reihe unterschiedlicher Perspektiven, die alle gleichermaßen fehleranfällig sind, sondern vertikal, als verschiedene Entwicklungsstufen entlang einer evolutionären Linie. [...] Was passiert jedoch, wenn wir die Idee der Avantgarde von ihrer Verbindung mit historischer Notwendigkeit und dem Wissen darum trennen? In diesem Fall wird eine Avantgarde-Initiative nicht als die Handlung verstanden, die die richtige Verbindung zwischen dem gegenwärtigen Moment und der Zukunft, nach der man strebt, herstellen soll. Stattdessen erscheint sie als ein Bemühen, das ‚benachbarte Mögliche‘ einer Situation zu erkunden – die virtuellen Pfade, die sie eröffnet – mit dem Ziel, diejenigen zu finden, die sowohl tragfähig sind als auch am weitesten in die gewünschte Richtung führen könnten. Es geht nicht darum, eine zugrunde liegende Notwendigkeit zu entdecken, sondern etwas ins Leben zu rufen, das vorher nicht da war: eine Richtung zu eröffnen. [...] Es gibt keine Avantgarde-Position, wie eine Lokomotive, die ständig an der Spitze des Fortschritts steht. Aber wir können von Avantgarde-Funktionen sprechen, die besser mit den Pseudopodien einer Amöbe verglichen werden können, die sich ihren Weg ertastet. [...] Die Rolle der Avantgarde-Funktion besteht nicht darin, den Menschen zu erklären, was ihr Wunsch ist, geschweige denn, was er sein sollte, sondern darin, die Regungen dieses Wunsches zu hören, ihn anzuregen, ihn ans Licht zu bringen; ihm zu helfen, Gestalt anzunehmen, den Menschen zu helfen, Konsequenzen daraus zu ziehen. Wie Guattari es ausdrückte, sollte die Aufgabe der „militanten Gruppe“ nicht darin bestehen, „fertige rationale Antworten auf die Fragen zu geben, die sie denken, dass die Menschen stellen sollten, sondern im Gegenteil, das Niveau ihres Fragens zu vertiefen“. Eine Initiative ist keine Anweisung, sondern eher wie eine Frage, die die Menschen zwingt, eine subjektive Haltung in Bezug auf ihren Wunsch einzunehmen und herauszufinden, wie er in die Praxis umgesetzt werden kann: „Ist es dies? Wenn nicht, was dann?“