1 Inhalt
Die Vortragenden schienen eine zumindest teilweise
antihumanistische Position zu vertreten: Die Sonderstellung des Menschen als einziges vernünftiges Wesen in klarer Abgrenzung zur Natur sollte hinterfragt werden. Eine etwaige
Grenze zwischen Technik und Mensch bzw. Natur wurde allerdings nicht hinterfragt und auch die Abgrenzung zwischen Mensch und Natur wurde meines Erachtens teilweise in anderen Kritikpunkten vorausgesetzt.
"Zivilisation" wurde von den Vortragenden auf zwei Weisen definiert:
1. Als raubbasiertes soziales System, das per se auf Staat und Kapital hinausläuft
2. Als nebulöse Agglomeration der Konzepte Extraktivismus, Expansionismus, Kolonialismus, Patriarchat und ggf. Landwirtschaft, wobei letzteres explizit als nur notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium für Zivilisation dargestellt wurde.
Ich behaupte, dasselbe gilt für die meisten – wenn nicht sogar alle – genannten Merkmale der Zivilisation. Da die Bekämpfung des Patriarchats und des Kolonialismus unter Linken unkontrovers und weit verbreitet sind, behandle ich sie hier nicht weiter.
1.1 Raub
Ob sich "Raub" nur auf Prozesse innerhalb des jeweiligen Prozesses bezieht blieb unklar. Ist bloß dieser systeminterne Raub gemeint, dann dürften die wenigsten Zukunftsvorstellungen von Linken unter den Begriff "Zivilisation" fallen. Wird "Raub" dagegen weiter gefasst, fallen mindestens alle sozialen Raubtiere unter die Definition und sollten folglich auf Staat und Kapital hinauslaufen. Wieso nur menschlicher Raub auf Staat und Kapital hinauszulaufen scheint, bedarf einer Erklärung, da Raubbasiertheit in der ersten o.g. Definition als hinreichende Bedingung dargestellt wurde. Mir scheint es, dass Raub für die Entstehung von Kapital kein hinreichendes und im Falle des Staats evtl. nicht mal ein notwendiges Kriterium darstellt.
1.2 Extraktivismus
Hier ist wieder unklar was gemeint ist. Meines Wissens muss jedes
selbstreproduzierende System Energie aus seiner Umwelt aufnehmen und (wie jeder Prozess)
die Gesamtunordnung (Entropie) des Universums erhöhen und somit zu dessen Hitzetod beitragen.
Gemeint ist vielleicht der übereifrige, sich ideologisch rechtfertigen wollende Extraktivismus. Aber dies würde erst einmal der o.g. antihumanistischen Haltung widersprechen. Wieso sollte allein der "bewusste" Extraktivismus des Menschen als scheinbar einziges autonom handelndes Subjekt per se auf Staat und Kapital hinauslaufen?
Oder vielleicht ist das schnellere aufbrauchen von Ressourcen als ihre Erneuerung gemeint. Dahingehend würde es mich überraschen wenn keine einzige feudale oder sklavenhaltende Gesellschaft, von denen manche viele Jahrhunderte bestanden, jemals nachhaltig gewirtschaftet hat. Umgekehrt tritt dieser Extraktivismus natürlich auch "in der Natur" auf, scheinbar ohne auf Staat oder Kapital hinauszulaufen. Wenn ein System seine Ressourcen bis zur Knappheit hin aufbraucht, schrumpft das System, bis sein Verbrauch mit der Erneuerung im Gleichgewicht steht und voraussichtlich würde es mit dem Kapitalismus ebenso ablaufen; nicht dass das wünschenswert wäre.
1.3 Expansionismus
Selbstreproduzierende Systeme, die von sich aus eine nicht-expansive 1:1 Reproduktion verfolgen sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Fast alle Systeme haben eine Tendenz zur expansion, so z.B. auch Menschen vor Beginn der Landwirtschaft und Zivilisation. Das Fehlen einer akuten Expansion ist fast nie auf das Fehlen eines internen Drangs zur Expansion zurückzuführen, sondern auf ein Gleichgewicht mit der jeweiligen Umgebung. Eine Ochsenfroschpopulation kann ganz abhängig von seiner Umgebung statisch, expansiv oder gar nicht erst überlebensfähig sein.
Ob eine Expansion sich
kriechend einem Gleichgewicht annähert oder dieses
überschießt und einen anschließenden Kollaps herbeiführt hängt ebenfalls von der Umgebung ab. Gibt es einen großen Speicher an Ressourcen ohne jegliche Erneuerung ist letzterer Fall vorgeschrieben. Gibt es umgekehrt keinen Speicher und nur einen ständig verfliegenden Fluss an Ressourcen, kann das System nicht über den Gleichgewichtspunkt hinaus expandieren. Ein weiterer Faktor ist die Trägheit des expandierenden Systems.
1.4 Umfunktionierung
Die Vortragenden drückten außerdem eine sehr starke (fast absolute) Skepsis gegenüber der Umfunktionierung von Technologien aus. Als Beispiel wurde u.A. das Straßennetz mit seiner angeblich ursprünglich militaristischen Funktion genannt. Einserseits ist klar, dass nicht alles ohne weiteres zu allem umfunktioniert werden kann. Ich wüsste z.B. von keinem Linken, der behaupten würde, dass Amazon komplett unproblematisch würde, wenn man doch nur den CEO alle 4 Jahre demokratisch wählen würde. Doch andererseits mangelt es nicht an Beispielen für Umfunktionierung
Die Vortragenden haben eine kollaborative
Beziehungsweise an den Tag gelegt, die mich überrascht hat, und welche ich gerne erwidern und weitertragen möchte. Es fiel mir nicht schwer, ihnen zu glauben, dass der Vortrag keine Kampfansage an andere Linke darstellen sollte. Letzteres kann zwar nicht immer verhindert werden, aber eine gewisse Bereitschaft, die eigene Meinung zu ändern ist dennoch erstrebenswert. "Bereitschaft" bedeutet aber eben nicht bloße Willigkeit sondern auch das tatsächliche Aufrechterhalten von Beziehungen, damit so ein potentieller Sinneswandel auch mehr und schnellere Wirkung zeigen kann.
3 Fazit
Alle Modelle sind falsch, doch manche sind nützlich. Ich halte den Zivilisationsbegriff eher für schädlich als für nützlich. Die einzelnen Komponenten dieses Zivilisationsbegriffs sind gut erforscht, doch das Bündeln all dieser Komponenten und der Versuch, deren Kombination als hinreichende Bedingung für die Entstehung von Staat und Kapital darzustellen, scheitert meines Erachtens und trägt eher dazu bei, die ausdifferenzierteren Zusammenhänge, die in den jeweiligen Forschungsgebieten aufgedeckt wurden, zu verschleiern.
Qualitative Aussagen oder gar Vorschriften bzgl. Raub, Expansionismus, Extraktivismus und Umfunktionierung scheinen sich nicht zu ergeben. Es bleibt nur ein quantitativer Apell zur Vorsicht. Dieser ist verständlich und gerechtfertigt, doch ebenso gut kann man der Linken eine
übertriebene Vorsicht und Idealismus vorwerfen, während der Kapitalismus ganz ohne unser Wirken auf die Klimakatastrophe zusteuert.
Weiterführend