Determinische Ethik
Einleitung
Während die Ich-Perspektive uns zwingt, so zu handeln, als wären wir frei, erfordert eine konsequente deterministische Ethik, Andere als kausal determiniert zu behandeln – so ähnlich wie Automaten, Tiere oder "Irre". Dieser asymmetrische Ansatz ist alles andere als entmenschlichend, und kann zu einem rationaleren, empathischeren und letztlich einfühlsameren ethischen Rahmen führen, der unseren Fokus von metaphysischer Schuld auf pragmatisches Verständnis und effektives Eingreifen verlagert.
Determinismus und seine philosophischen Implikationen
Im Kern besagt der
kausale Determinismus, dass jeder Zustand des Universums vollständig durch seine vorhergehenden Zustände und die Gesetze der Physik bestimmt ist. Auf den Menschen angewendet bedeutet dies, dass unsere Gedanken, Wünsche, Entscheidungen und Handlungen keine spontanen Akte eines unursächlichen Willens sind, sondern vielmehr die unvermeidlichen Ergebnisse eines komplexen Zusammenspiels von genetischen Prädispositionen, Umwelteinflüssen, vergangenen Erfahrungen und neurologischen Prozessen. Aus dieser Perspektive wird die Vorstellung, man "hätte (unter exakt gleichen Bedingungen) anders handeln können", zu einer Illusion.
Diese deterministische Weltanschauung stellt eine tiefgreifende Herausforderung für traditionelle Vorstellungen von
Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit dar. Wenn jede Handlung vorbestimmt ist, dann beginnt das Konzept der endgültigen moralischen Verantwortung, bei dem ein Individuum allein und fundamental für seine Entscheidungen verantwortlich ist, sich aufzulösen. Wenn die Handlungen einer Person lediglich das Produkt von Kräften sind, die letztlich außerhalb ihrer Kontrolle liegen, dann verliert die moralische Rechtfertigung für Schuld, Bestrafung und sogar Lob in ihrem traditionellen Sinne ihre Grundlage.
Die Asymmetrie: Selbst als frei, Andere als unfrei
Das zentrale Prinzip dieses ethischen Rahmens liegt in einer entscheidenden Asymmetrie: der Unterscheidung zwischen unserer subjektiven Erfahrung von uns selbst und unserem objektiven Verständnis von anderen aus Sicht des Betrachters.
Die ununterdrückbare subjektive Erfahrung der Freiheit (Ich-Perspektive):
In unseren typischen ego-gesteuerten Bewusstseinszuständen können wir der gelebten Erfahrung, Entscheidungen zu treffen, schlicht
nicht entkommen. Während Geisteszustände wie Flow, Ego-Tod oder „Erleuchtung“ eine willkommene Auszeit vom Ego-Dasein mit seinem scheinbar unentrinnbaren Gefühl der Entscheidungsmacht bieten mögen, konzentriert sich dieser Essay auf die Implikationen des Determinismus für ebendiese egoische Erfahrung. Unabhängig davon, ob der freie Wille objektiv existiert, operieren unsere Egos
als ob er existiert. Diese subjektive Erfahrung zu leugnen, würde den Alltag inkohärent und lähmend gestalten.
Die objektive Behandlung anderer (Dritte-Person-Perspektive):
Im Gegensatz dazu können und
sollten die Handlungen anderer aus einer objektiven und wissenschaftlichen Perspektive als kausal determinierte Ergebnisse betrachtet werden, wodurch sich unsere interpretative Linse von moralischem Urteil zu kausaler Analyse verschiebt. Die Empathie und das Verständnis, die wir Tieren und "Irren" entgegenbringen, ohne ihnen einen freien Willen zuzuschreiben, können auch auf alles menschliche Verhalten ausgedehnt werden. Während der Determinismus unsere
Freiheit als illusorisch verstehen mag, gilt dies nicht für unsere
Empfindung von Freude und Leid. Dies soll klarstellen, dass die Anerkennung kausaler Determinierung andere nicht wertlos macht; vielmehr fördert sie tiefgreifende Empathie für alles Leid, von dem nichts jemals als "verdient" angesehen werden kann. Ich behaupte, dass die Behandlung anderer als kausal determiniert sowohl zu ethischerem Verhalten führt als auch letztlich für die Deterministin vorteilhaft ist, da sie es ihr ermöglicht, ihre Umwelt effektiver zu beeinflussen.
Praktische Vorteile dieses asymmetrischen Ansatzes:
- Effektivere Politik: Diese Perspektive fördert die Konzentration auf die Identifizierung und Modifizierung von Ursachen, um unerwünschte Verhaltensweisen anzugehen. Anstatt schlechtes Verhalten einfach zu verurteilen, blind zu bestrafen, weil die Täter oder politischen Gegner es "verdienen", würden politische Maßnahmen Ergebnisse über alles andere stellen. In den meisten Fällen bedeutet dies, Interventionen wie Bildung und Armutsbekämpfung gegenüber strafenden und repressiven Maßnahmen in den Vordergrund zu stellen.
- Mehr Empathie und weniger Ressentiment: Wenn wir wirklich verinnerlichen, dass die Handlungen anderer determiniert sind, dann verlieren Wut, Schuldzuweisung und Groll ihre Grundlage. Anstatt zu verurteilen, werden wir dazu angehalten, Ursachen zu verstehen, was zu mehr innerer Ruhe und Mitgefühl führt, was wiederum ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl zur Folge hat.
Moralisieren als Einflussinstrument (mit Vorsicht):
Innerhalb eines deterministischen Rahmens kann der Akt des Moralisierens – d.h. der Verurteilung – immer noch eine Funktion erfüllen, wenn auch als pragmatisches, "unaufrichtiges" Mittel zur Verhaltensbeeinflussung. Das heißt, man könnte versuchen, das Verhalten einer Person zu beeinflussen, indem man kommuniziert, dass man die "Entscheidung" dieser Person, sich auf dieses Verhalten einzulassen, moralisch verurteilt, ohne dies wirklich zu glauben. Moralisieren wird in diesem Sinne zu einem von vielen Werkzeugen, die verwendet werden können, um zukünftige Handlungen anderer zu beeinflussen. Diese Praxis sollte jedoch aus drei Gründen sparsam und mit äußerster Vorsicht angewendet werden:
- Empathie für die Moralisierten: Trotz des Fehlens wahrer metaphysischer Verantwortung verursacht die Erfahrung, beschuldigt oder beschämt zu werden, echten psychologischen Schmerz und Leid. Eine empathische deterministische Ethik verlangt, dass wir solchen Schmerz minimieren. Im Grunde wird Moralisieren zu einer weiteren Strafmaßnahme, die sowohl gegen ihre vermeintlichen positiven Ergebnisse als auch gegen alternative Ansätze abgewogen werden muss.
- Ineffektivität: Meistens erweist sich Moralisieren als ineffektiver oder zumindest suboptimaler Ansatz zur Verhaltensbeeinflussung. Zum Beispiel ist die Bekämpfung von Drogenmissbrauch nachweislich effektiver durch unterstützende strukturelle Interventionen (z.B. Gesundheitsinitiativen, Schaffung wirtschaftlicher Möglichkeiten, zugängliche Behandlung) als durch moralische Verurteilung (oder sogar amoralische repressive Maßnahmen). Die alleinige Konzentration auf individuelle Schuldzuweisung versagt oft darin, die komplexen Faktoren anzugehen, die zu einem Verhalten beitragen, und kann dieses sogar bekräftigen.
- Die Gefahr des Eliminationismus: Ein übermäßiger Verlass aufs Moralisieren birgt das Risiko, unbeabsichtigt Vorstellungen vom freien Willen und endgültiger Verantwortung zu reproduzieren. Anstatt die zugrunde liegenden Bedingungen zu beheben, die bestimmte Handlungen und Akteure hervorbringen, könnte die Gesellschaft in die Falle tappen, einfach nach endültig verantwortlichen Individuen oder Gruppen zu suchen, die man beschuldigen und entfernen kann. Diese Tendenz, zu beschuldigen und zu entfernen, liegt im Kern einiger der zerstörerischsten Ideologien wie dem modernen Antisemitismus (auch als „Sozialismus der dummen Kerle“ bezeichnet, da er strukturelle wirtschaftliche Missstände auf eine Sündenbockgruppe fehlleitet). Ein wirklich deterministischer Ansatz erfordert die Konzentration auf das Verstehen und Verändern des Systems, nicht nur auf die Entfernung jener „unmoralischen“ Akteure, die es hervorbringt.
Zum Strohmann-Argument des moralischen Nihilismus
Eine gängige Fehlinterpretation besagt, dass, wenn alle Handlungen determiniert sind, niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann, was zu moralischem Nihilismus, gesellschaftlichem Chaos und der Freisprechung allen schädlichen Verhaltens führt. Diese Interpretation berücksichtigt jedoch nicht die Bereitschaft und Rechtfertigung des Egos, in seine Umgebung einzugreifen, unabhängig davon, ob dieser Umgebung ein freier Wille zugeschrieben wird oder nicht. Erstens, wie oben erwähnt, verlangt eine empathische deterministische Ethik, dass man zuerst unterstützende und rehabilitative Maßnahmen zur Verhaltensänderung anderer in Betracht zieht. Zweitens erlaubt die deterministische Ethik immer noch strafende und repressive Maßnahmen, wenn diese anderen Maßnahmen unzureichend sind.
Wenn eine Gruppe von Kindergartenkindern von einem Bären angegriffen würde, könnte man gerechtfertigt in Betracht ziehen, Gewalt, ggf. sogar tödliche Gewalt, anzuwenden, um den Bären aufzuhalten. Dasselbe gilt nicht weniger, wenn die Kindergartenkinder Geflüchtete und der Bär ein Rechtsextremer ist. Wenn es darum geht, Leid zu minimieren, muss ein Wesen keine Repression "verdienen", um diese gerechtfertigt zu erleiden. In diesem Sinne erlaubt eine deterministische Ethik repressive Maßnahmen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Während ein Determinist vielleicht nicht der Meinung ist, dass rücksichtslose Fahrer es im Sinne einer Vergeltung "verdienen", ihren Führerschein zu verlieren, müsste man ein Idiot sein, um diese Politik abschaffen zu wollen. Die Möglichkeit, dass man "unverdient" seinen Führerschein verliert, ist den Nutzen wert, den diese Politik einem bietet.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die vorgeschlagene asymmetrische Sichtweise – sich selbst als frei zu behandeln, während man andere als determiniert betrachtet – einen konsistenten und potenziell vorteilhafteren Rahmen für ethisches Denken und soziale Interaktion innerhalb einer deterministischen Weltsicht bietet. Indem wir die ununterdrückbare subjektive Erfahrung der Handlungsfähigkeit für das Ego anerkennen, während wir eine objektive, kausale Perspektive für andere einnehmen, können wir die problematischen Folgen des Denkens entlang traditioneller Vorstellungen des freien Willens überwinden. Diese Perspektive versöhnt die Realität unserer gelebten Erfahrung mit den logischen Implikationen des Determinismus. Obwohl dieser Rahmen tief verwurzelte Annahmen herausfordert, schlägt er letztlich einen Weg zu einem rationaleren, empathischeren und effektiveren Ansatz zum Verstehen und Beeinflussen menschlichen Verhaltens vor, indem er eine Gesellschaft fördert, die auf Verständnis statt auf Verurteilung aufgebaut ist.