Sollen etwa alle Funktionen des Staats abschaffen werden, z.B. auch kollektive Entscheidungsfindung?
Nein, letztere ist natürlich auch in der Anarchie vorhanden.
Es stellt sich somit eine Frage der Semantik:
- Den "Staat" abschaffen und durch etwas anderes ersetzen.
- Einen "Staat" einrichten, der der Anarchie gerecht wird.
Definition des Staats
Alle Definitionen sind rein logisch valide, aber sie sind nicht gleichermaßen nützlich.
Die übliche Staatsdefinition nach Max Weber (nämlich eine Institution, die das Gewaltmonopol auf einem definierten Gebiet beansprucht) ist wenig nützlich, weil legalistisch.
Sie ist in etwa so nützlich wie eine legalistische Sexismusdefinition:
- "Es gibt keine sexistischen Gesetze mehr, ergo gibt es keinen Sexismus"
- "Cis-Männer von einem Klo ausschließen ist sexistisch"
Politische Herrschaft kann auch ohne Weber'sche Staatlichkeit vorliegen.
Stell dir vor, alle hätten dasselbe Recht, Gewalt auszuüben,
aber nur die Polizei hat das Recht Schusswaffen zu besitzen.
Soweit muss man nicht einmal gehen.
Unser Staat wäre auch nach Abschaffung des Gewaltmonopolanspruchs noch eine politische Herrschaft.
Selbst wenn jeder jeden Waffenschein machen und Gewalt jeder Art anwenden dürfte, bliebe der reale Zugriff auf Waffen sowie das praktische Wissen ihrer Anwendung fast vollständig beim "Staat" konzentriert und das würde sich nicht großartig (zum besseren) ändern.
Weitere Beispiele sind Anarcho-Kapitalismus und die Tyrannei unstrukturierter Gruppen.
1. Anarcho-Kapitalismus
Wenn du was beim Rewe klaust, schicken die halt eine oder mehrere para-polizeilichen Unternehmen auf dich los um das NAP (non-agression principle) durchzusetzen. Best-case-scenario: sie nehmen dir nur deine Beute weg. Selbst dass ist doch wohl politische Herrschaft.
Man kriegt es ja nicht einmal im AZ mit 50 Leuten ohne Schusswaffen hin, frei von politischer Herrschaft zu sein.
Man stelle sich die FAI innerhalb der CNT innerhalb der "Zivilgesellschaft" mit ungleich verteilten Schusswaffen vor. War es wirklich so frei von politischer Herrschaft wie wir es uns gerne ausmalen und wenn ja, wäre dieser Zustand auch jenseits des Bürgerkriegs stabil geblieben?
Recht vs. Zugriff
Recht auf Gewalt ≠ Zugriff auf Gewalt. Gleiches Recht auf Gewalt (oder Schusswaffen) ist weder hinreichend, noch kurzfristig notwendig für gleichen Zugriff auf Gewalt (bzw. Schusswaffen).
Beispiel: Sprechen
In einer Diskussion ist gleiches Recht aufs Sprechen ≠ gleichem Zugriff aufs Sprechen.
Allen gleiches Recht aufs Sprechen zu geben (also ohne Moderation) ist weder hinreichend noch kurzfristig notwendig um einen möglichst gleichen Zugriff aufs Sprechen zu gewährleisten.
Unter Umständen kann durchs einführen einer Hierarchie bzgl. des Rechts aufs Sprechen (Moderation) der materielle Zugriff aufs Sprechen angeglichen werden.
Weil Herrschaftsverhältnisse häufig informell oder sogar spontan auftretend (emergent) sind, sind legalistische Definitionen derer so nutzlos.
Das Vorliegen einer Moderation kann als "Sprachstaat" verklärt werden, obwohl sie unter gewissen Umständen die größtmögliche materielle Gleichheit bereitstellen kann; So wie das Cis-Männer-freie Klo als sexistisch verklärt werden kann, obwohl es den Zugriff auf den Klogang qualitativ ebnet.
Fazit
Ich bin "gegen den Staat" als dass ich gegen politische Herrschaft bin. Aus dieser Haltung folgt mMn nicht, dass ich gegen jede Rechtshierarchie bzgl. der Anwendung von Gewalt oder Waffen sein sollte. Ich finde es propagandistisch eher kontraproduktiv sich "gegen den Staat" zu positionieren, weil
- dies sehr gerne als eine kategorische Ablehnung ggü. jeder Rechtshierarchie oder sogar allen Regeln verstanden wird
- gar nicht so selten "realpolitisch" das Ausbauen einer staatlichen Funktion Herrschaft reduziert
Unter Linken wäre der knackige Begriff "Staat" als synonym für "politische Herrschaft" allerdings nützlich.
"Politisch" heißt hier nicht-identitär und "nicht-ökonomisch", wobei die Sphären der Ökonomie und Politik nicht scharf von einander zu trennen sind; Also eher "nicht-identitäre, weniger ökonomische Herrschaft".
Ich bin gegen den Staat so wie ich gegen Sexismus bin. Es ist ein teils formalisiertes, teils bewusst informelles und teils tatsächlich emergentes System, das sich folglich nicht per Dekret oder Unterlassung dessen abschaffen lässt. Stattdessen stellt seine Abschaffung ein massives Projekt dar, das viel "probieren und studieren" erfordern wird. Mir ist bewusst, dass dabei u.U. auch Positionen vertreten werden müssen, die legalistisch aufgefasst als "heuchlerisch" dargestellt werden können.