Marc Kersten war mit unseren Streetworkerinnen Rieke Bender und...
Draussenseiter - Das Kölner StrassenmagazinMarc Kersten war mit unseren Streetworkerinnen Rieke Bender und Petra Hastenteufel unterwegs und hat offenbar wichtige Erkenntnisse für seine politische Arbeit gewonnen. Die Beiden waren während der ganzen Corona-Zeit draußen auf der Straße unterwegs und haben mit den Leuten gesprochen. Hier Marc Kerstens Nachbericht über eine ganz besondere Rundgang durch Köln.




+3Marc KerstenWenn ich Menschen sagen höre, die Situation mit Obdachlosen in unserer Stadt sei dramatisch, dann werde ich hellhörig. Und versuche mir selbst ein Bild zu mache...n! Deshalb war ich letzte Woche mit zwei Streetworkerinnen der Oase unterwegs in Deutz, die dort jeden Tag Hilfe leisten und die Situation gut beurteilen können.
In der Tat ist es dramatisch, wie viele Menschen in Köln keinen festen Wohnsitz haben. Soweit dies Menschen aus Südosteuropa betrifft, liegt dies in erster Linie an der Haltung unserer Bundesregierung. Denn Arbeitsmigranten aus diesen EU-Ländern werden in Deutschland wie Menschen zweiter Klasse behandelt und haben es sehr schwer, hier Fuß zu fassen. Außer einer humanitären Grundversorgung (z.B. in der Vorgebirgsstraße) haben sie kaum Rechte, was die Integration enorm erschwert. Aufgrund fehlender Melde- bzw. Postadressen ist es ihnen oft nicht möglich, Arbeitsverträge abzuschließen, eine Steuernummer zu beantragen und sie können dann auch keine Anträge beim Sozialamt stellen, um ihr bereits erworbenes Anrecht auf Sozialleistungen geltend zu machen. Sehr oft verfügen sie über keine Ausweisdokumente mehr, da ihnen diese auf der Straße gestohlen wurden und sind nicht krankenversichert. Teilweise werden sie von Arbeitgebern übelst ausgebeutet und mit falschen Arbeitsversprechungen von Schleusern hierher gelockt. Und trotz dieser menschenunwürdigen Umstände haben sie bei uns ein besseres Leben als in ihrer Heimat, was ein trauriges Schlaglicht auf die Ungleichheit innerhalb Europas wirft.
Ja, sie schlafen manchmal in Hauseingängen. Ja, sie verrichten manchmal ihre Notdurft in unangemessener Weise. Ja, manchmal sind sie auch aggressiv. Aber nichts davon habe ich gestern oder bei meinem vorherigen Rundgang in Deutz beobachten können. Friederike Bender und Petra Hastenteufel von der Oase haben mir versichert, dass dies auch nicht das typische Verhalten obdachloser Menschen darstellt. Und sollten wir diese Gruppe von Menschen nach den Exzessen einiger weniger beurteilen?
Ich bin bei diesem gemeinsamen Rundgang durch Deutz auf durchweg freundliche Menschen gestoßen. Auf traurige Schicksale wie den noch recht jungen aus Sachsen stammenden Mann, der früher Autoersatzteile gefertigt hat. Für ihn war irgendwann kein Bedarf mehr, jetzt bittet er vorm REWE-Eingang mit einem dezent formulierten Zettel um etwas Geld. Eine Frau im mittleren Alter treffen wir unter der Deutzer Brücke, die uns ihre halbe Lebensgeschichte erzählt: vom Missbrauch in der Pflegefamilie, ab dem 12 Lebensjahr ohne festen Wohnsitz, der alle Dokumente geklaut wurden, die dringend einen neuen Schlafsack und eine warme Winterjacke benötigt. Da wird die Oase helfen können. Zudem kümmert sie sich etwas um einen polnischen Obdachlosen, der kaum ansprechbar ist.
Viele Menschen, die "auf der Platte" leben, haben gesundheitliche Probleme. Manche von ihnen sind suchtkrank. Nicht versicherte EU-Bürger*innen bekommen zwar eine Entgiftung, werden danach aber wieder auf die Straße gesetzt und oft in kürzester Zeit wieder rückfällig. Krankenwohnungen, in denen sie sich erholen und auskurieren können, gibt es für sie nicht. Aufgrund des fehlenden Versicherungsschutzes erhalten sie auch keine nachhaltige medizinische Versorgung, es werden nur akute Wunden und Symptome behandelt. Chronisch Kranke, z.B. mit Magen-Darmproblemen, Hepatitis C oder HIV bekommen nicht die notwendigen Medikamenten. Für manche ein halbes Todesurteil!
Schonungslos hat mir Friederike die Notlager gezeigt, wo diese Menschen im Schatten unserer Gesellschaft nächtigen. Während Köln über ein neues Vier- oder Fünf-Sterne-Hotel am Friesenplatz nachdenkt, schlafen diese Menschen ohne Sterne, ohne Zimmerservice, ohne Heizung, ohne Windschutz und ohne jede Form von Sicherheit. Ich bin unter Brückenaufgänge, auf Baustellengelände und durch Gebüsche gestreift auf der Suche nach diesen Menschen. Einige Eindrücke habe ich fotografisch festgehalten.
Aktuell, so habe ich von Betroffenen gehört, würde das Ordnungsamt wieder vermehrt solche Notlager räumen. Denn sobald die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken, ist ihnen dies nicht mehr erlaubt. Dabei wird scheinbar nicht immer auf Ausweichlösungen wie die Notschlafstellen in der Vorgebirgsstraße, im Johanneshaus oder vom Sozialdienst Katholischer Frauen am Mauritiussteinweg hingewiesen.
Von Mandy erfahren wir, dass Ordnungsamtsmitarbeiter*innen auch schon mal ausländerfeindliche Sprüche reißen. Zum Beispiel: "Die sollen doch dahin verschwinden wo sie herkommen!" in Richtung der polnischen, rumänischen und bulgarischen Wohnungslosen. Verdrängung statt Problemlösung. Aus den Augen, aus dem Sinn.
So stellt sich letztlich die Kernfrage: Wem gehört unsere Stadt? Nur jenen mit festem Wohnsitz, die durch Obdachlose Unannehmlichkeiten erleiden oder Umsatzeinbußen befürchten? Oder allen hier Lebenden? Und wie kann man das Zusammenleben in unserer Stadt besser gestalten? Sind zum Beispiel zusätzliche öffentliche Toilettenanlagen in Deutz nötig? Was können die Streetworker*innen leisten? Welche Rolle spielt das Ordnungsamt? Wie kommen wir zu einer anderen Gesetzgebung, die Menschen zumindest Krankenversicherungsschutz bietet? Und kann die Stadt Köln womöglich über die gesetzlich verpflichtenden Leistungen hinausgehen, aus offensichtlichen humanitären Gründen?
Eine (Stadt-)Gesellschaft ist auch daran zu messen, wie sie mit den Schwächsten in ihren Reihen umgeht. Köln hat da noch Luft nach oben!
P.S. Ganz herzlichen Dank an Friederike und Petra, für die Einblicke, die Ihr mir gewährt habt. Für die guten Gespräche und das Angebot demnächst nochmal mitzugehen, dann in der Hohe Straße. Ihr leistet tolle Arbeit!
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