Man kann davon ausgehen, dass von Wohnungs- und Obdachlosigkeit Betroffene aufgrund der prekären Lebensverhältnisse, Armut, dem eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung und bestehenden Vorerkrankungen, ein erhöhtes Risiko sowohl für eine Infektion mit SARS-CoV-2, als auch einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf haben. Aus diesem Grund hat Anfang Juli 2021 das Robert Koch Institut „Empfehlungen für Gesundheitsämter und Anbieter der […]
„Ich muss mal für große Mädchen“DRAUSSENSEITER-Chefredakteurin Christina Bacher mit Adam und Gabi vor der OASE. Das obdachlose Paar aus Polen lebt in einem “Little Home” unter einer Brücke. | (c) Foto: Simon Veith
Man kann davon ausgehen, dass von Wohnungs- und Obdachlosigkeit Betroffene aufgrund der prekären Lebensverhältnisse, Armut, dem eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung und bestehenden Vorerkrankungen, ein erhöhtes Risiko sowohl für eine Infektion mit SARS-CoV-2, als auch einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf haben. Aus diesem Grund hat Anfang Juli 2021 das Robert Koch Institut „Empfehlungen für Gesundheitsämter und Anbieter der Wohnungslosen- und Obdachlosenhilfe“ zum Umgang mit Wohnungs- und Obdachlosen veröffentlicht. Der Ruf nach Partizipation der betroffenen Menschen bei Entscheidungen und der Ausgestaltung von Angebotsstrukturen während der Pandemie spielt dabei eine zentrale Rolle. Doch wie erreicht man die Leute? Und wer hört ihnen überhaupt zu? Christina Bacher – seit 15 Jahren Chefredakteurin des Kölner Straßenmagazins DRAUSSENSEITER – hat sich darüber Gedanken gemacht.Der Kölner Straßenzeitungsverkäufer Lothar, der seit Juli 2016 seine bürgerliche Existenz gegen das Leben auf der Straße getauscht hat, lebt weitestgehend ohne Handy und sucht nur ab und zu die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe auf. Um einen wichtigen Termin bei der Stadt Köln wahrnehmen zu können, benötigt er im April 2021 erstmals einen negativen Corona-Schnelltest. Wie so eine Testung abläuft, ist ihm bis dahin unbekannt. In dem Straßenmagazin DRAUSSENSEITER beschreibt er später, wie beängstigend ihm der Mann vorgekommen sei, der „gekleidet wie ein Seuchenexperte oder wie einer, der sich vor Radioaktivität schützen muss“ plötzlich vor ihm steht. Nachdem er seine Adresse („OFW“ – ohne festen Wohnsitz) angegeben hat, bekommt er wie alle anderen ein „Identifikationsband um das rechte Handgelenk“. Wobei: Die Frau vor ihm bekommt das Band links umgelegt – ein Versehen? Jedenfalls beunruhigend. Er solle die digitale Anzeigentafel beobachten, heißt es, bis seine Nummer erscheine. Doch von seinem zugewiesenen Platz aus kann er die Tafel nicht sehen, so stellt er sich direkt davor und liest die Nummern laut vor, die darauf erscheinen. „Verjagen – wie viele andere vor mir und nach mir – lasse ich mich nicht. Ich habe mich so platziert, dass ich die Zahlen laut vorlesen kann. Einige sind sehr dankbar dafür gewesen!“ Lothar, der grundsätzlich ein hilfsbereiter Mensch ist, weiß, dass nicht jede*r Deutsch versteht, nicht jede*r gute Augen hat, viele diese Situation ungewohnt und beängstigend finden. Da weiß er mehr als diejenigen, die dieses Impfzentrum eingerichtet haben. Vielleicht hätte man den gelernten Bauingenieur bei der Einrichtung des Testzentrums involvieren sollen? Für Lothar geht die Sache an dem Tag gut aus: Neben dem negativen Testergebnis später erreicht er es sogar, dass man ihn nach langer Wartezeit analog ausruft, wie er sich das gewünscht hat, nämlich – wegen Datenschutz – nur mit seinem Vornamen „Loddar!“ Andere dagegen, die weniger mutig sind, trauen sich gar nicht erst in diese neue Situation hinein und verpassen so ihre wichtigen Termine beim Amt.
Eine Partizipation von Obdach- und Wohnungslosen bei Entscheidungen und Ausgestaltung von Angebotsstrukturen während der Pandemie, so das RKI, sei entscheidend, wenn man Missverständnissen vorbeugen und die Etablierung von Verhaltensregeln umsetzen wolle. „Partizipative Ansätze können (…) die Akzeptanz der hygiene- und infektionsbedingten Regeln fördern. Hinweise durch Hilfesuchende können helfen, Abläufe zu vereinfachen und zum Infektionsmanagement beitragen“, heißt es da. Doch wer schenkt den Menschen Gehör, die ihren Lebensmittelpunkt im öffentlichen Raum haben, oft sehr mobil sind und sich durch eine eher schlechte Erreichbarkeit auszeichnen? Wie kann man ihre Bedarfe erheben und sie um ihre Meinung fragen? Vorausgesetzt, sie wollen sie überhaupt äußern. Ein Gremium oder eine zentrale Stelle, an die sich Menschen ohne Obdach in der Pandemie wenden können, gibt es in Köln jedenfalls nicht.
Ein Anfang wäre es sicherlich, wenn man nicht – wie so häufig – über Wohnungs- und Obdachlose spricht, sondern mit ihnen, sagt Rainer Kippe vom „Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung“. Im Rundbrief 21 der Initiative kritisierte er beispielsweise, dass bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Obdachlosigkeit kein Betroffener auf dem Podium saß. Kippe, der die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim mitaufgebaut hat und erst kürzlich mit einer Mahnwache vor dem Rathaus ins Gespräch gebracht hat, schreibt weiterhin: „Wer nicht verstehen will, dass es notwendig ist Menschen, die auf der Straße leben, in Debatten und Entscheidungen in eigener Sache einzubeziehen (…) wird in ein paar Jahren immer wieder diese Diskussionen führen, und feststellen, beziehungsweise ausblenden, dass man nicht weitergekommen ist.“ Als Beispiel führt er die Sendung der Talkshow „Hart, aber fair“ an, bei der sich tatsächlich mal ein Betroffener und eine Ehrenamtlerin im Gespräch mit Frank Plasberg über das Kölner Hilfesystem äußern durften – statt konstruktiv mit den Vorwürfen umzugehen, seien „Verwaltung und freie Träger“ nachtragend gewesen und habe die Kritik scharf zurückgewiesen.
Nicht nur er und seine Mitstreiter*innen forderten die Aussetzung von Zwangsräumungen während der Pandemie, die Stärkung von bestehenden Selbsthilfeprojekten wie SSK, SSM, BWA und OMZ, wo sich seit Jahren Obdachlose am Bau ihrer Wohnungen selbst beteiligen können und die Unterbringung von Obdachlosen in Einzelzimmern während der lebensgefährdenden Pandemie. Auch die Sozialen Straßenzeitungen in Deutschland starteten im Februar 2021 eine Petition „Gegen das Sterben auf der Straße: Öffnet die Hotels für Obdachlose!“, die bis heute bei Change.org von
121.289 Menschen unterzeichnet wurde – darunter auch Straßenzeitungsverkäufer*innen und Betroffene. Woher aber können Betroffene an Informationen kommen? Woher (wissen) erfahren sie von Petitionen, Demonstrationen, Podiumsdiskussionen und Möglichkeiten, um sich einzumischen?
Menschen ohne Dach über dem Kopf nennt man Obdachlose. Menschen, die in Schutzräumen und Einrichtungen untergebracht sind, gelten als wohnungslos. Während man in den Einrichtungen naturgemäß besser erreichbar ist, muss man Obdachlose häufig erst einmal „finden“, aufsuchen und gegebenenfalls ansprechen, um sie auf Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, „Nachtcafés“ oder Suppenküchen aufmerksam zu machen. Neben den ehrenamtlichen Gruppen, die in Großstädten abends Essen und warme Getränke ausgeben, spielen hier die professionellen Streetworker*innen eine immens wichtige Rolle: Als sich Andere im Homeoffice ins traute Heim zurückzogen, waren die Streetworker*innen der OASE – Benedikt Labre e.V., der Diakonie Michaelshoven oder auch der katholischen Obdachlosenseelsorge Gubbio täglich von morgens bis abends auf der Straße unterwegs, um Masken und Essensgutscheine zu verteilen und „nebenbei“ wichtige Aufklärungsarbeit zu leisten. Dabei verteilten sie mehrsprachige Flyer über Risiken der Ansteckung, gaben Informationen über Impfmöglichkeiten raus und diskutierten auch schon mal über die gesellschaftliche Verantwortung, die ein jeder in diesen Zeiten trägt. Analog zwar, aber hilfreich.
Am 12. Mai 2021 fand dann die erste größere Impfaktion für Obdachlose, mit einem mobilen Impfteam in der Überlebensstation Gulliver statt. Diese Aktion wurde sehr gut angenommen, insbesondere war das Interesse an dem Impfstoff groß, der keine zweite Impfdosis erfordert. So hatte der Mobile Medizinischen Dienst des Gesundheitsamts, der die verschiedenen Einrichtungen auch schon vor der Pandemie mit geschultem Personal aufgesucht hat, jede Menge zu tun. In kurzer Zeit waren ca. 600 Personen aus dem Kreis der Wohnungslosen gegen das Coronavirus geimpft, hinzu kamen noch Angebote durch die mobilen Impfteams, die über das Sozialamt organisiert wurden und Impfaktionen in den Notunterkünften der Humanitären Hilfe und in den Beherbergungsbetrieben im ganzen Stadtgebiet. Für den Leiter des MMDs Adolf-Martin Müller ein gutes Beispiel dafür, dass gerade ein breit aufgestelltes Hilfesystem hier Früchte trägt und möglichst viele Menschen „abholt“: „Das sehr stark aufgesplittete, diversifizierte Hilfesystem, das wir in Köln haben, hat sich während der Corona-Pandemie m.E. im Großen und Ganzen bewährt. Auch wirkliche Randgruppen konnten so erreicht werden – es wurde noch einmal deutlich, dass es im Umfeld der Wohnungslosigkeit zwar recht typische Problematiken und Lebensumstände gibt, dass es innerhalb der Gruppe der Wohnungslosen aber auch eine Vielzahl unterschiedlicher (Über-) Lebensweisen, Lebensentwürfe gibt, die dann auch darauf abgestimmte Hilfsangebote erfordern.“
Selten organisieren sich Obdachlose in Gruppen selbst, um die eigenen Interessen zu kommunizieren wie die Leute vom Verein „Obdachlose mit Zukunft“, die durch die Unterstützung prominenter Mitstreiter*innen in der Gummersbacher Straße eine zeitlich befristete Notunterkunft von der Stadt gestellt bekommen haben. Oder der Verein „Heimatlos in Köln“, der von der ehemals obdachlosen Linda Rennings gegründet wurde und der von Anfang der Pandemie an eine öffentliche Toilette für die Menschen am Wiener Platz gefordert hat – begleitet durch eine breit angelegte Pressekampagne. Dass spätestens nach der pandemiebedingten Schließung der Restaurants und Kneipen die Menschen ohne eigenen Schutzraum gezwungen waren, ihre Notdurft in Parkanlagen und Hauseingängen zu verrichten, war somit allgemein bekannt. Und obwohl auch das RKI dringend empfiehlt, „Zugang zu öffentlichen Toiletten sicherzustellen (…) (portable) Sanitär- und Hygieneeinheiten an bekannten Aufenthaltsorten aufstellen. Sicherstellen, dass dort Seife und Einmalhandtücher/Papierhandtücher vorhanden sind“ rührte sich bei der Stadt Köln monatelang nichts. Obwohl die Bezirksvertretung Mülheim Anfang Dezember 2020 die sofortige Aufstellung eines Toilettenwagens am Wiener Platz beschloss, schob man sich die Verantwortung noch monatelang gegenseitig zu. Die „kölsche“ Interimslösung sah dann letztlich so aus, dass die Grünanlage hinter der Stadthalle von den AWB gereinigt wurde und ein bekannter Catering- und Gastrofachmann – Betreiber des natürlich zur Zeit auch geschlossenen Zoch-Biergartens auf dem Wiener Platz – anbot, seinen Toilettencontainer für die Allgemeinheit zu öffnen. Eine Genehmigung blieb aus, bis dann im Juni 2021 – sechzehn Monate nach Pandemiebeginn eine Erlaubnis erfolgte, für wenige Wochen ein Dixiclo aufzustellen – auf Kosten des engagierten Privatmanns. Ein gutes Beispiel dafür, dass Einmischung nur funktionieren kann, wenn es auch erwünscht ist.
Das weiß auch die Kölner Freiwilligen Agentur, die in Zukunft vermehrt Menschen in politische Prozesse einbinden möchte, die sonst eher selten Gehör finden. So hat man im Januar 2021 den Beraterkreis „Inklusive Beteiligung“ gegründet, der mithelfen kann, Menschen – darunter auch obdachlose Betroffene – zu erreichen, die sich bislang wenig für Wahlen, Bürgerversammlungen und Beteiligungsverfahren interessierten. Bei dieser Zielgruppe spreche man dann von „schwachen Interessen“. „Schwach sind objektiv oder subjektiv vorhandene Interessen dann, wenn die Träger dieser Interessen (….) nicht in der Lage sind, ihnen Ausdruck zu verleihen“, heißt es in dem mehrseitigen Konzept. Das beobachtet man bei Menschen dann, „wenn sie von den Mehrheiten oder Eliten der Stadtgesellschaft, von Politik, Verwaltung, Medien, Wirtschaft u.a. nicht wahr- und ernstgenommen werden.“ Dabei sollten doch diejenigen, die den öffentlichen Raum nutzen, auch und vor allem an seiner Gestaltung beteiligt werden.
Dass man aus der Krise lernt und für kommende Zeiten besser gewappnet sein will, zeigt auch das von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW unterstützte und vom Vringsreff e.V. ins Leben gerufene Projekt „Vringstreff digital für Wohnungslose im Netz“. Ab sofort können sich hier nun in interaktiven Workshops und an Leihgeräten wöchentlich Menschen fortbilden. Angefangen mit kleinen Tipps für die Suche im Internet über die Sicherung wichtiger Dokumente bis hin zum Thema Datenschutz und Sicherheit. Aber auch eigene Themen und Fragen können mitgebracht und in den Workshops beantwortet werden. Je mehr Betroffene solche Angebote nutzen, desto mehr können sie sich in Zukunft am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen. Und wer weiß: Vielleicht findet ja auch Lothar irgendwann mal Freude daran, ein mobiles Ipad oder einen Computer in einer Einrichtung zu nutzen, seine Artikel für das Straßenmagazin DRAUSSENSEITER selbst abzutippen oder seine Beschwerde bezüglich des unsensiblen Textzentraum letztens tatsächlich selbst zu verfassen. Im Grunde ist er nämlich ein politisch interessierter Mensch und mischt sich gerne mal ein, wenn es um seine Lieblingsstadt Köln und deren Belange geht.
Autorin: Christina Bacher