«Ich kann mich nicht an viel erinnern», sagt die junge Frau. «Nur
daran, dass ich Angst hatte. Da...
SERIE - «Ich kann mich nicht an viel erinnern», sagt die junge Frau. «Nur daran, dass ich Angst hatte. Das Einzige, was sich mir eingeprägt hat, ist die Angst» «Ich kann mich nicht an viel erinnern», sagt die junge Frau. «Nur daran, dass ich Angst hatte. Das Einzige, was sich mir eingeprägt hat, ist die Angst»
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Die 8-jährige Wika Sawtschenko wird aus dem Dorf Zarichne nahe Liman evakuiert. Februar 2023.
Marko Djurica / Reuters
17. März 2023
Die junge Frau erinnert sich, dass dreiundzwanzig Prilyots in ihr Haus einschlugen. Prilyot ist ein zeitgemässer russischer und ukrainischer Begriff, den wir verwenden, wenn eine Form modernen Todes vom Himmel fällt und explodiert: eine Bombe, eine Artillerie- oder Mörsergranate, eine Gradrakete oder was auch immer. Die dreiundzwanzig Prilyots haben keine einzige Wohnung in dem grossen mehrstöckigen Gebäude, das die Form des Buchstabens U bildet, unbeschädigt gelassen. Aber nein, eine einzige Wohnung ist unversehrt geblieben, und die Frau hatte das Glück, mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater Sergei darin zu wohnen.
«Aber die Fenster wurden doch zerschmettert, oder?», frage ich.
«Nein, das wurden sie nicht. Nur die Eingangstür wurde eingedrückt», erklärt die junge Frau. Sie ist einundzwanzig, wirkt aber jünger. Sie ist unsere neue Nachbarin. «Ausserdem gab es da ein Loch in der Wand, wo früher die Lüftung war. Die Lüftung wurde einfach herausgesprengt.»
«Was habt ihr dort gegessen?», frage ich.
Sie sagt: Konserven. Und es gab natürlich auch freiwillige Helfer, aber die waren seltene Besucher in der Rodnikowaja-Strasse. Jedes Mal, wenn sie mit ihrem Lastwagen vorbeikamen, bildete sich eine dreihundert Meter lange Schlange von Menschen.
«Dreihundert Meter oder zweihundert Meter – oder ich weiss nicht, wie lang», sagt die junge Frau. «Aber sie war sehr, sehr lang.»
Ich sehe, wie sie sich diese gigantische Reihe vor Augen hält und versucht, ihre unerträgliche Länge zu beschreiben, aber es gelingt ihr nicht. Sie sagt, dass es unmöglich sei zu fassen, was sie gesehen habe. Die Worte, die das beschreiben könnten, seien noch nicht erfunden. Es habe keinen Sinn, es zu versuchen.
Wie einst Montaigne bei anderer Gelegenheit bemerkte, gibt es Dinge, die sich den Worten entziehen.
So brachten Freiwillige manchmal Essen mit, aber es gab nicht genug zu essen für alle. Zuerst sagt die junge Frau, dass meist Essen gestohlen worden sei, aber dann korrigiert sie sich. Sie meint, dass Leute, die behauptet hätten, sie brauchten Lebensmittel für andere, sehr viel mitgenommen hätten, und als der Lastwagen schliesslich in der Rodnikowaja-Strasse, seiner letzten Station, angekommen sei, sei er fast leer gewesen.
«Mama wollte nicht fortgehen», sagt die junge Frau. «Sie sagte immer, dass unsere Wohnung für sie der einzige Ort sei, an dem sie sich trotz allem sicher fühlen könne. Das war unlogisch, aber sie empfand es so. Egal, sosehr wir uns auch bemühten, sie zu überzeugen, wir konnten sie nicht von dort wegbringen.»
Sie gesteht, sie könne den Gedanken, ihre Mutter zu verlieren, nicht ertragen; sie würde lieber sterben, als ohne sie zu leben.
«Ich weiss nicht einmal, was schlimmer wäre», sagt die junge Frau, und ich merke, dass sie über ihre Worte nachdenkt, dass sie meint, was sie sagt. «Wenn meine Mutter sterben würde oder wenn ich es täte. Aber ich weiss, dass ich ohne sie nicht leben könnte, auch wenn wir uns ständig gestritten haben und sie so oft mit mir geschimpft hat. Ich würde nicht leben können, ohne zu hören, wie sie mich anschreit.»
So musste sie mit ihrer Mutter in der Wohnung mit dem Loch in der Wand in dem schwer beschädigten Gebäude in der Rodnikowaja-Strasse ausharren.
Die junge Frau meint, sie habe Glück gehabt. Schliesslich hätten viele Menschen noch viel Schlimmeres erlebt. Einige kleine Kinder überlebten ganz allein die vielen Bombeneinschläge. Viele Gebäude wurden komplett zerstört, vom Erdboden verschluckt. Vielleicht hat die Frau recht. Ich habe Fotos von mehrstöckigen Gebäuden gesehen, die mitsamt den Kellern ausradiert wurden. Sie hatten sich in Gruben verwandelt, die mit russigen Ziegeln umrandet waren und aus denen Betonbalken ragten, die nichts mehr trugen.
Die junge Frau erzählt, als etwas ganz in der Nähe explodiert sei, hätten ihr die Ohren geklingelt. Ich kenne das auch, denn ich habe es selbst einmal gespürt. Es knallt nicht nur in den Ohren, sondern sie klingeln auch noch eine ganze Weile, und man versteht nicht so recht, was los ist. Für einige Sekunden fühlt man sich wie von der Welt getrennt. Das bist du, und das ist die Welt, die ständig explodiert, aber aus irgendeinem Grund kannst du sie nicht berühren, und es sieht so aus, als könne sie dich nicht berühren. Zum Glück habe ich das nur einmal erlebt und nicht dreiundzwanzig Mal.
«Ich habe das Gefühl, dass dieses Jahr aus meinem Leben verschwunden ist», sagt die Frau, und dieses Gefühl kenne ich auch. 387 Tage des Krieges, das sind 9288 Stunden oder 33 436 800 Momente des Lebens. Was unendlich wertvoll hätte sein können, ist den Bach runtergegangen.
«Es kommt mir vor, als hätte ich in diesem Jahr nicht gelebt, als hätte es nie existiert», sagt die junge Frau. «Tatsächlich kann ich mich nicht an viel erinnern. Nur daran, dass ich Angst hatte. Das Einzige, was sich mir eingeprägt hat, ist die Angst.»
Zur Person
PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 180. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
