SERIE - In den Nachrichten heisst es, dass in diesem Moment vier Raketen auf Charkiw zuflögen – das Warten auf die Explosionen zehrt an den Nerven In den Nachrichten heisst es, dass in diesem Moment vier Raketen auf Charkiw zuflögen – das Warten auf die Explosionen zehrt an den Nerven
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

Ungemütlich, aber wenigstens sicher: Zivilisten suchen in der Charkiwer U-Bahn Schutz vor russischen Raketen. Februar 2023.
Oleg Petrasyuk / EPA
8. Februar 2023
Es ist spät am Abend. Lena sitzt an ihrem Laptop und bereitet sich auf den morgigen Unterricht vor. Sie mag Multitasking, also schreibt sie unserer Tochter Ann, die am anderen Ende der Stadt wohnt, eine SMS und liest gleichzeitig die Nachrichten. Plötzlich lässt eine Explosion unsere Fenster vibrieren.
«Das war die eine», sage ich. Ich meine damit, dass die Russen nur selten eine einzige Rakete abfeuern, und jetzt warten wir auf die zweite.
Dem Geräusch nach zu urteilen, liegt der Ort der Explosion mehrere Kilometer weit entfernt. Die nächste Rakete wird höchstwahrscheinlich auf dieselbe Stelle gerichtet sein, so dass sie uns nicht auf den Kopf fallen sollte. Russen hämmern gerne auf dieselbe Stelle, so wie Spechte. Oder wie stark betrunkene Spechte, denn auch wenn sie eifrig auf dieselbe Stelle zielen, treffen sie immer daneben. Trotzdem zehrt das Warten auf eine Explosion stets an den Nerven. Es geht um das Problem der Unausweichlichkeit, denke ich.
Die zweite Explosion erschüttert das Haus wieder leicht, so wie eine kleine Welle, die ein Boot schaukelt. Lena chattet weiter. Die Antworten folgen sofort.
«Wie geht es dir, was machen die Explosionen?», fragt sie Ann.
«Mir geht’s gut, und dir? Es sind zwei.»
«Auch uns geht es gut. Ja, zwei.»
«Dann ist also alles in Ordnung.»
In den Nachrichten heisst es, dass in diesem Moment vier Raketen auf Charkiw zuflögen. Später erfahren wir, dass um 22 Uhr 33 im russisch besetzten Donezk etwas detoniert sei. Fünf Minuten später lassen die Russen verlauten, dass sie zurückschlagen würden. Eine halbe Stunde nach den Explosionen in Donezk greifen sie Charkiw an. Sie behaupten, der Raketenangriff sei «auf Stellungen der ukrainischen Streitkräfte» erfolgt. Diese rituelle Floskel gehört zum Standard, auch wenn sie einen Gartenschuppen oder ein Toilettenhäuschen getroffen haben.
Wir warten also auf neue Explosionen.
«Mach dich bereit», tippt Lena.
«Mach ich», antwortet Ann, «aber ich will eigentlich nicht!»
Die dritte und die vierte Explosion folgen schnell aufeinander, aber der Nachrichtensender meldet, dass eine fünfte Rakete im Anflug sei. Sie lässt sich leicht verfolgen, aber nicht abschiessen, was bedeutet, dass es sich um eine ballistische Rakete handelt, höchstwahrscheinlich eine S-300. Die Russen verfügen über solche immer noch haufenweise und können uns grosszügig damit eindecken, aus Wut oder aus purer Langeweile.
«Wir können die Einschläge sehr gut hören», schreibt Ann. «Alles zittert.»
«Wie geht es dir?»
«Es ist ein Albtraum.»
«Wir hören sie auch.»
«Gut, dass sie das Licht nicht ausgemacht haben!»
«Das Zentrum wird beschossen. Sie zielen nicht auf die Infrastruktur, sie wollen etwas anderes treffen, diese Bastarde.»
Laut den Nachrichten hat der Bürgermeister die Angriffe auf eine «Industrieanlage» im Zentrum bestätigt. Es wird nicht gesagt, um welche Art von Industrieanlage es sich handelt, so dass wir davon ausgehen, dass das Objekt militärische Bedeutung hatte. Zwei Raketen fielen in den Zentralpark, schlugen tiefe Löcher und verteilten Erde und Äste im Umkreis von Hunderten von Metern.
Der Nachrichtensender sagt, dass sich eine sechste Rakete in der Luft befinde. Sie wird ein oder zwei Minuten brauchen, um Charkiw zu erreichen. Ein entfernter Knall rollt über die Stadt. Freudig erregte Russen aus Belgorod schalten ein Video von Raketen online, die in Richtung Charkiw abgeschossen wurden.
«Wahrscheinlich ist es jetzt vorbei.»
«Fast. Wir werden sehen.»
«Hoffentlich wird niemand getötet.»
Später werden wir viele Bilder sehen, die im Zentralpark aufgenommen wurden. Wahrscheinlich wurden sie kurz vor der Morgendämmerung aufgenommen, denn der Himmel im Osten fängt bereits an, blass zu werden. Ich erkenne die alten Bäume wieder, es sind die Bäume meiner Kindheit. Gefrorene Erdbrocken liegen durcheinander im Schnee. Die jungen Bäume in der neuen Allee sind mit Reif bedeckt und sehen aus wie Silberbesteck. Sie wurden mit Liebe gepflanzt, und jeder trägt ein Schild mit der Angabe, wann und von wem. Ich frage mich, wie viele von ihnen verletzt wurden: Schrapnellsplitter können ein Bäumchen umhauen, so als wären sie ein rotierendes Helikopterblatt.
Später gibt es Fotos vor der «Industrieanlage» zu sehen, die von den anderen vier Raketen getroffen wurde. Alles, was davon übrig ist, sind vom Feuer versengte Rippen von Betonbalken.
Es ist ein ganz normaler Abend in Charkiw, so wie immer. Am Tag zuvor schlugen zwei S-300-Raketen ebenfalls im Zentrum ein und zerstörten die oberen Stockwerke einer der Charkiwer Universitäten. Das Gebäude war zum Glück leer, und nur der Wachmann hatte ziemlichen Stress.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 144. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
