SERIE - Eine einfache Rechnung zeigt, dass es 200 000 Tage oder 547 Jahre dauern wird, bis alle Minen unter den Stromleitungen beseitigt sind Eine einfache Rechnung zeigt, dass es 200 000 Tage oder 547 Jahre dauern wird, bis alle Minen unter den Stromleitungen beseitigt sind
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Minenräumung in der Region Charkiw, Mai 2023.
Viacheslav Ratynskyii / Reuters
2. April 2023
Die Wendung «Vor dem Krieg» hört sich immer noch ein wenig unangenehm an. Wir haben begonnen, immer öfter «vor dem Krieg», «während des Kriegs» und «nach dem Krieg» zu sagen. Diese drei Begriffe haben irgendwie die altmodische Trias von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ersetzt.
Dinge, die vor dem Krieg ganz normal waren, wie der Besuch des Friedhofs, auf dem unsere Eltern begraben sind, oder ein Ausflug in die Natur, wo wir einfach im Gras sitzen oder ein Zelt am Flussufer aufstellen, sind unmöglich geworden, da alles – Friedhöfe, Wälder, Wiesen, still dahingleitende Flüsse, sanfte Hügel und idyllische Seen, in denen der Himmel sich spiegelt – jetzt stark vermint ist. Manche Aktivitäten unserer Vergangenheit, wie etwa Pilzesammeln im Wald, wirken nun uralt, ja fast schon prähistorisch.
Einst, 43 Jahre nach der Veröffentlichung von «Anna Karenina», im Jahr 1920, schrieb ein Sowjetschriftsteller in sein Tagebuch, dass er beim Lesen des Romans plötzlich das Gefühl hatte, ein schwer in die Jahre gekommenes Buch vor sich zu haben. Noch wenige Jahre zuvor war es modern gewesen, doch plötzlich war es Teil einer vergangenen Kultur geworden. Nun, im Zeitalter der sowjetischen Mädchen, der Baltischen Flotte, der Politkommissare, der Sowjetmilizen und der Frauen, die ihren Lebensunterhalt als Strassenbahnschaffnerinnen verdienten, erschienen ihm die von Tolstoi geschilderten Formen der Eifersucht, der Liebe, des Verrats und der Ehe vorsintflutlich.
Wenn die Zukunft auf uns zukommt – was keineswegs garantiert ist, denn heute träumt sogar der weissrussische Kartoffel-«Führer» Lukaschenko davon, mit Atomraketen zu spielen, wie ein Kind von Buntstiften, und auch China könnte, wenn es einen weiteren Krieg anzettelt, die Zukunft unmöglich machen –, wenn es also irgendwann «nach dem Krieg» sein wird, dann könnten uns unsere heutigen Formen von Eifersucht, Liebe, Verrat und Ehe, aber auch unsere gängigen Lebenserwartungen, moralischen Standards, Vergnügungen, Traditionen und Alltagsroutinen ebenfalls steinalt vorkommen.
Eine neue Ära wird an die Stelle der alten treten, und wir werden uns an das neue Leben gewöhnen müssen, frische Wurzeln schlagen wie der Spross eines Kaktus, der zu Boden gefallen ist und doch weiterlebt. Nichts wird mehr so sein wie vorher, und es ist traurig, daran zu denken.
Nur ein Prozent jenes Gebiets der Region Charkiw, das von den Russen besetzt war, ist mittlerweile von Minen geräumt. 99 Prozent sind nach wie vor von Minen verseucht.
Bisher wurden nur schmale Streifen von Land entlang von Gas- und Stromleitungen geräumt. Wenn alle Sappeure der Region Charkiw (von denen es nicht eben viele gibt) gleichzeitig arbeiten, brauchen sie einen Tag, um einen zehn Meter breiten und fünfzig Meter langen Abschnitt unter einer Stromleitung zu räumen.
Die Gesamtlänge der Stromleitungen in der Region Charkiw beträgt 10 000 Kilometer. Eine einfache Rechnung zeigt, dass es 200 000 Tage oder 547 Jahre dauern wird, um alle Minen zu beseitigen. Aber das sind lediglich Stromleitungen, und erst danach wird mit der Entminung der landwirtschaftlichen Flächen begonnen, und erst danach werden sich die Sappeure der Wälder, Wiesen, Flussufer, Hügel und Seen annehmen.
Wenn wir nicht bis zu sechs Jahrhunderte warten wollen, um unsere Felder wieder zu bestellen, brauchen wir eine gewaltige Armee von 150 000 Pionieren. Mit ihnen könnte man das gesamte Gebiet binnen eines Jahres minenfrei machen. So viele aber werden wir niemals haben. Doch vielleicht werden uns eines Tages, im 24. oder 25. Jahrhundert, neue, supermoderne Technologien helfen, die mühselige Arbeit effizienter und schneller zu erledigen.
Ich meinerseits hoffe, dass die Friedhöfe etwas früher geräumt werden. Dort stehen Grabsteine aus schwarzem und rotem Granit mit Fotos von geliebten Menschen. Vielen wurden von Explosionen ausradiert oder von Schrapnells zerfetzt. Die Gräber werden von Unkraut überwuchert sein. Vor dem Krieg habe ich keine Zeit gefunden, einen Stein auf das Grab meiner Mutter zu setzen.
In den Feldern und Wäldern werden nicht nur Menschen in die Luft gesprengt, auch unschuldige Tiere treten auf Minen. Meistens sind es Hasen, aber auch Füchse, Wölfe, Wildschweine, Rehe und Biber.
Ein Hase, der vor einem Fuchs Reissaus nimmt, tritt auf eine Tretmine, die grün, fast unsichtbar und aus Plastik ist. Der Fuchs springt, durch die Explosion erschreckt, beiseite und wird Opfer einer anderen Mine.
Ein Fischer in einem Holzboot nahe am Ufer hört die beiden Explosionen und einen hohen, durchdringenden Ton, den schrillen Schrei des Hasen. Er blickt in die Ferne, die sich hinter dem schwebenden Dunst des Morgennebels verbirgt, neigt den Kopf, tritt am Ufer auf den zähflüssigen Lehm, der mit dem nassen Schilf des Vorjahres bedeckt ist, und es explodiert eine weitere Mine, die seinen linken Fuss in blutige Fetzen reisst.
Zur Person
PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 196. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
