Der Luftalarm ist gar keiner. Es handelt sich um eine grosse Mücke, die
fliegt und laut brummt – ...
SERIE - Der Luftalarm ist gar keiner. Es handelt sich um eine grosse Mücke, die fliegt und laut brummt – bis der grosse Frosch sie auffrisst Der Luftalarm ist gar keiner. Es handelt sich um eine grosse Mücke, die fliegt und laut brummt – bis der grosse Frosch sie auffrisst
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Das Leben geht weiter. Flohmarkt in Kiew, 31. Dezember 2022.
Spencer Platt / Getty
20. März 2023
Heute fragt Lena beim Aufwachen: «Ist der Krieg vorbei oder nicht?»
«Noch nicht», sage ich. «Warum fragst du?»
«Jeden Tag wache ich auf und hoffe, dass alles nur ein Traum war», antwortet sie.
Heute erzählt ein Mann, wie er mit seiner zweijährigen Enkelin durch die Stadt flanierte, als die Luftangriffssirenen zu heulen begannen. Ihr Klang hallte von den Gebäuden wider und erschreckte das Mädchen. Daraufhin erfand der Grossvater eine Geschichte, die er nun jedes Mal erzählte, wenn sie hinausgingen und eine Sirene hörten.
Er sagte, es handle sich nicht um eine Sirene, sondern um eine grosse Mücke, die fliege und laut brumme. Und wenn die Sirene aufgehört habe zu heulen, bedeute das, dass ein grosser Frosch gekommen sei und die grosse Mücke gefressen habe.
Aber eines Tages stellte das kleine Mädchen klar: «Nein, das ist keine Mücke. Das ist Sirene. Sie lebt in einem Haus, und ihre Eltern sind zur Arbeit gegangen. Aber sie muss gefressen werden.»
Heute gehe ich nach draussen, um Trockenfrüchte für Kompott zu kaufen. Trockenfrüchte sind sehr beliebt, und viele alte Frauen verkaufen sie im Winter und im Frühjahr.
Ich kaufe von zwei alten Frauen eine Tüte. Sie sehen etwas über siebzig aus. Sie sind sonnengebräunt und lächeln. Zu den Füssen der einen von ihnen liegen Taschenbücher zum Verkauf. Auf den Covern sehe ich Kämpfer mit Maschinenpistolen, Maschinengewehren und anderem Zeug. Die Bücher sind erstaunlich unkreativ. In gewisser Weise sind sie voneinander abgeschrieben. Es geht in ihnen allen um Russen, und alle diese Bücher stammen aus russischen Verlagen.
Ich glaube nicht, dass die Grossmütter sich mit Absicht subversiv betätigen. Wahrscheinlich hat jemand diese Bücher in den Müll geworfen, und die alten Frauen versuchen nun, sie zu verhökern. Ich bezweifle allerdings, dass heute noch jemand so einen blutigen, amorphen Klumpen Literatur lesen wird.
Ich schaue mir die Umschläge an. Jemand hat gesagt, dass alle schönen Supermodels der Welt in nur zwanzig oder zweiundzwanzig streng festgelegten Posen fotografiert würden. Diese Posen werden immer und immer wiederholt, aber wir, die wir dasselbe zum tausendsten Mal sehen, bemerken die Wiederholung nicht und begreifen nicht, dass wir manipuliert werden.
Ich weiss nicht, ob das mit den Supermodels stimmt, aber die muskelbepackten Kämpfer auf den Buchumschlägen sind noch weniger abwechslungsreich: Ich habe nur drei Posen gezählt, und jede davon wird zigfach wiederholt.
Allerdings prangt auf dem Cover eines der Bücher: «Sterben für Russland»!
Früher wäre mir dieser Titel nie aufgefallen, aber jetzt kann ich das Wort «Russland» nur durch die Vergrösserungslinse des Krieges sehen.
«Schaut mal, was hier auf dem Umschlag steht», sage ich zu den alten Frauen. «Dafür könnt ihr ins Gefängnis kommen.»
Natürlich wird niemand die betagten Damen ins Gefängnis schicken, weil sie ein stupides Buch verkaufen, auch wenn es die Mörder und Plünderer verherrlicht. Wir leben ja schliesslich nicht in Russland! Ich hoffe nur, dass sie das Buch wegräumen werden. Ich bin ein toleranter Mensch; ich gehöre nicht zu denen, die Nation, Kultur und Sprache mit Waffengewalt bekämpfen. Aber wenn ein solches Machwerk offen zur Schau gestellt wird, beleidigt das meinen Anstand und meine Würde.
Die alten Damen reagieren sofort. «Das geht uns nichts an. Das Buch gehört uns nicht», sagen sie. Das erinnert mich an Bart Simpson und seinen berühmten Satz: «Ich war es nicht.»
Ich schlendere zum nächstgelegenen Laden, um dort Kartoffeln zu kaufen. Ein paar Minuten später sehe ich die alten Damen wieder. Jetzt steht ein alter Mann bei ihnen; er packt eiligst alle Bücher in eine Tasche, schaut sich um – in seinen Augen scheint die unausrottbare Angst der älteren Generation auf – und verschwindet.
1953, als Stalin starb und das unerträgliche Grauen, das über dem Land lag, sich gerade aufzulösen begann, waren diese alten Frauen und diese alten Männer zwei- oder dreijährige Kleinkinder – genauso wie das Mädchen, das der Geschichte von der grossen Mücke, die bei Fliegeralarm summt, und dem riesigen Frosch, der sie frisst, zuhörte.
Sie waren damals noch sehr klein, und doch hat der Horror, den sie in jenen Tagen einatmeten, sie fürs Leben gezeichnet. Egal, wie jung sie waren und wie wenig sie damals verstehen konnten, sie haben immer noch Angst vor den Behörden und werden immer Angst haben, egal, in welchem Land oder wie lange sie leben werden.
Ich frage mich, welche dauerhaften seelischen Schäden die mit diesem Krieg verbundene Gefahr und Angst bei den heutigen Zweijährigen anrichten werden.
Ich denke an das kleine Mädchen, das sich ein Märchen über eine Sirene ausgedacht hat, die in einem Haus wohnt und Eltern hat, die zur Arbeit gehen. In diesem Märchen ist die Sirene ein kleines Mädchen. Trotzdem muss sie lebendig gefressen werden.
Zur Person
PD
Sergei Gerasimow: Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 183. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
