Ein Gastbeitrag von Dorothea Renckhoff Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Sammler. Man sammelte Zeugen der Vergangenheit, um sie für die Gegenwart zu erhalten und fruchtbar zu machen. Zu den berühmtesten Sammlungen im Bereich der Literatur zählen die Märchen der Brüder Grimm, die von romantischen Dichtern zusammengestellte Volkslied-Anthologie Des Knaben Wunderhorn und die Liedersammlungen […]
Das abenteuerliche Leben des Romantikers Anton Wilhelm von Zuccalmaglio
Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio, um 1842
Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Sammler. Man sammelte Zeugen der Vergangenheit, um sie für die Gegenwart zu erhalten und fruchtbar zu machen. Zu den berühmtesten Sammlungen im Bereich der Literatur zählen die Märchen der Brüder Grimm, die von romantischen Dichtern zusammengestellte Volkslied-Anthologie
Des Knaben Wunderhorn und die Liedersammlungen von Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio (1803 – 1869). Doch während in
Des Knaben Wunderhorn einzig Texte festgehalten sind, hat Zuccalmaglio auch die Melodien notiert und so insgesamt 700 Lieder für die Nachwelt – für uns – erhalten. Ohne ihn würde sie heute niemand mehr kennen:
Die Blümelein, sie schlafen, Schwesterlein, Kein schönes Land in dieser Zeit – sie wären für immer verloren. Das hängt mit der tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlung zusammen, die sich zu Zuccalmaglios Lebzeiten vollzog und die er wach beobachtet hat.
Seine Geburt 1803 fällt in die Jahre, als Napoleon fast ganz Europa beherrschte und das Rheinland französisch war; der Liedersammler starb 1869, ein Jahr vor dem großen deutsch-französischen Krieg von 1870/71, das deutsche Kaiserreich und Gründerzeit nach sich zog. Zwischen diesen Endpunkten fuhren die ersten Eisenbahnen und Dampfboote, mechanische Webstühle beschleunigten den Arbeitsprozess und leiteten die Industrialisierung ein, und die Städte wuchsen rasant. Als Gegenbewegung zum sich immer rascher steigernden Tempo in allen Lebensbereichen beschwor die Romantik Sehnsuchtsbilder aus Vergangenheit und Natur, mittelalterliche Burgruinen, Waldeinsamkeit und ein ideales Leben, das bürgerliche Sesshaftigkeit ablehnt und sich in stetem Unterwegssein, im Wandern und Reisen verwirklicht. In seinem ganzen Leben war Zuccalmaglio – der es nie zu einer eigenen Wohnung brachte – geradezu der Prototyp des Romantikers.
Schon die Vorgeschichte seiner Familie scheint einem romantischen Schauerdrama entnommen: Wie der Name nahelegt, stammt das Geschlecht Zuccalmaglio aus Italien. Das Kind, das einmal Anton Wilhelms Urgroßvater werden sollte, war nach dem Tod des Vaters von der bösen Stiefmutter als Edelknabe nach Deutschland geschickt worden. Einer von dessen Söhnen – also ein Großonkel von Anton Wilhelm – sollte sich später in Italien um das Erbe kümmern, das dem deutschen Zweig der Familie zustand; er erstellte einen Stammbaum, aus dem die Abstammung der Zuccalmaglios von den Medici hervorging und – wurde in Italien ermordet. Weitere Nachforschungen unterblieben.
Anton Wilhelm kam in Waldbröl im Amt Windeck zur Welt. Sein Vater war Jurist und wurde 1805 in Schlebusch Maire
[1]. Die Mutter war als Tochter eines herzoglichen Richters auf Schloss Burg aufgewachsen. Als kleiner Junge war Anton Wilhelm dort oft zu Gast und erinnerte sich als Erwachsener mit Sehnsucht an das alte Schloss, das er in späteren Jahren als Ruine wiedersehen musste – man hatte das Gebäude aufgegeben und, wie früher üblich, als Steinbruch benutzt
[2]. Auch hier ein romantisches Motiv im Leben des Liedersammlers: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Ort einer fernen Kindheit, nach alten Schlössern und Palästen, wie wir sie bei Chamisso und Eichendorff finden.
Die Mutter sang dem Jungen unzählige Volkslieder aus der Gegend vor, wie
Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht, er fiel auf die zarten Blaublümelein – und Zuccalmaglio beschreibt später die alten Trachten und das einfache Leben im bergischen Land während seiner Kindheit: »Mit den alten Trachten lebten alte Lieder, alte Gebräuche, alte Anschauungen im Volke.« Die Heimat der
Blaublümelein’, die so oft in seinen Liedern besungen werden, erkannte er im Siebengebirge, wo die Scilla bifolia, der zweiblättrige Blaustern, auch Sternhyazinthe genannt, im Frühling blüht. Aber wer denkt dabei nicht an die blaue Blume der Romantik?
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Lithographierte Postkarte 1914 Mülheim mit Mülheimer Gottestracht
Doch Anton Wilhelm musste die Eltern bald verlassen: Schlebusch hatte keine Schule. Vom Haus des Großvaters in Mülheim am Rhein aus besuchte er die dortige Volksschule, zusammen mit seinem nur 3 Jahre älteren Onkel Franz. Im Zuge der Befreiungskriege sah das Kind Zuccalmaglio riesige Truppenkontingente den Rhein in beiden Richtungen überqueren, erlebte Einquartierung und versuchte beim Soldatenspiel mit seinen Freunden bereits, eigene Texte zu den Märschen zu verfassen. Nach dem Ende der Franzosenzeit (1815) konnte der Junge ins Elternhaus zurückkehren, denn der Vater blieb Bürgermeister und gründete in Schlebusch eine Schule.
»Um diese Zeit war mir […] die Gewalt und Kraft der Musik in bewußter Weise durch ein Wunder aufgegangen«, erzählt Zuccalmaglio in seinen Erinnerungen. »Ermüdet vom Spiele mit meinen Kameraden hatte ich mich auf eine Bank gesetzt, als zufällig im Hause mehrere Mädchen ein Volkslied anstimmten. Aufmerksam lauschte ich, der Zauber der weichen Stimmen, die Wendungen der Weise rührten mich dermaßen, daß ich ihn nicht mehr vergeßen habe. Alles früher Gehörte, dessen ich mich erinnerte, kam mir wie ein glänzendes Geräusch vor…«
Bald wirkte er als Cellist und Oboist im vom Vater gegründeten Laienorchester mit, das als »musikalische Akademie« 1818 mit rund 200 Teilnehmern aus der Region beim ersten niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf Haydns
Schöpfung und seine
Vier Jahreszeiten aufführte. Nebenbei lernte der Junge Violine, Klarinette und Horn. 1816 bis 1823 besuchte er das Karmeliter-Gymnasium in Köln an der Severinstraße.
[3] Einer seiner Lehrer – ein Sohn der berühmten Schauspielerin Sophie Schröder – muss ein Mann ohne Vorurteile gewesen sein, regte er doch den Schüler an, die Weisen der alten Lieder zu notieren, die Anton Wilhelm von seiner Mutter kannte – und das, obwohl die ›bessere Gesellschaft‹ zu der Zeit das Volkslied für flach und wertlos hielt. Zuccalmaglio zeichnete in diesen Jahren nur die Melodien auf, nicht die Texte.
Nach dem Schulabschluss trat er in Köln in die 7. Artilleriebrigade ein, und da der Militärdienst ihn bald langweilte, arbeitete er nebenbei an einer Sammlung von Burschenliedern für ein neues Commersbuch, wo er Fremdwörter durch deutsche Ausdrücke ersetzte. Das trug ihm in der von Spitzeln und Zensur geprägten Zeit den Verdacht ein, Demagoge und heimlicher Revolutionär zu sein. Ein wohlwollender Vorgesetzter schlug die polizeiliche Untersuchung nieder und gab ihm den Rat, in Zukunft nichts mehr unter dem eigenen Namen zu veröffentlichen. So entstand unter Bezug auf seinen Geburtsort Waldbröl der Künstlername Anton Wilhelm von Waldbrühl, der 1825 in der Literaturzeitschrift
Rheinische Flora unter seinem ersten veröffentlichten Gedicht stand:
Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht. Schon 1829 druckte
Heinrich Heine es im
Taschenbuch für Damen ab mit dem Vermerk: »Dieses ist ein wirkliches Volkslied, welches ich am Rhein gehört.«
Anton Wilhelms militärische Karriere endete unter mysteriösen Umständen: 1826 wurde er als dienstunfähig entlassen – ob bei einer Übung von einem Geschütz überfahren oder nach einem Reitunfall, blieb unklar. Wenig später war der junge Mann jedoch schon wieder in der Lage, weite Wanderungen zu unternehmen, wie die Romantiker sie liebten und wie er sie bald auch während seiner Studentenzeit in Heidelberg mit den Kommilitonen unternahm. An der dortigen Universität studierte er mit seinem jüngeren Bruder Vinzenz Rechts- und Staatswissenschaften bei dem berühmten Juristen Thibaut, daneben auch Musik, Archäologie, deutsche Sprache, Geschichte, Zeichnen, Astronomie und Mythologie.
Das Studentenleben von damals hatte wenig Ähnlichkeit mit dem von heute. Man unternahm Ausflüge und Festlichkeiten mit den Professoren und war Gast in ihren Häusern. Besonders Thibaut lud seine Schüler zu gemeinsamem Singen zu sich ein: Man befasste sich mit Volksliedern, aber nur mit denen anderer Länder, da man annahm, in Deutschland gebe es nichts als Schnadahüpfli aus den Alpen. Zuccalmaglio trat den Gegenbeweis an und trug eines aus seiner Heimat vor, und Thibaut regte an, es aufzuschreiben.
Zuccalmaglio erinnert sich, dass er notierte, »was ich von Volksweisen mich entsinnen konnte und wo mir Worte fehlten, legte ich diese dann nach Gutdünken unter.« So begann sein systematisches Sammeln, so begannen aber auch jene Textänderungen und das Schreiben eigener volksliedhafter Texte, die andere Liedsammler und Historiker bald zu seinen wütenden Feinden machen sollten: Als »üble Fälschungen« bezeichneten sie Liedtexte wie
Kein schöner Land zu dieser Zeit.
1830 mussten die Brüder die Universität verlassen – die Eltern hatten sich getrennt und konnten die Söhne finanziell nicht mehr unterstützen. Anton Wilhelm ließ ein Mädchen zurück, mit der er sich angesichts seiner unsicheren Zukunftsaussichten nicht hatte verloben können. Als ihre Briefe ausblieben, erfuhr er von den Kommilitonen in Heidelberg, dass sie an der Cholera gestorben war. Er hat nie geheiratet. Auch der Traum einer wissenschaftlichen Karriere lag zerschlagen. In den Staatsdienst wollte er auf keinen Fall – wie fast alle Rheinländer der Restaurationsjahre verabscheute er die preußische Regierung
[4].
Aus dieser Situation rettete ihn sein Onkel Franz, mit dem er zur Schule gegangen war. Auch Franz, der zum Freundeskreis von
Heinrich Heine gehörte, hatte sich dem preußischen Geheimdienst verdächtig gemacht, war über Griechenland nach Russland geflohen und hatte es im baltischen Mitau
[5] in kurzer Zeit zum Bürgermeister gebracht. Er verschaffte dem Neffen eine Stelle als Erzieher beim russischen Fürsten Gortschakow, der gerade geholfen hatte, den polnischen Aufstand niederzuschlagen, und bald Gouverneur von Warschau wurde.
[6] Bevor der angehende Prinzenerzieher nach Osten reiste, verbrachte er ein Jahr in Frankreich, um seine für die neue Stelle unerlässlichen Sprachkenntnisse zu vervollkommnen; damit entging er gleichzeitig einer Untersuchung durch die preußische Geheimpolizei, die ihn in eine Verschwörung verwickelt glaubte.
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Von 1832 an lebte Zuccalmaglio 8 Jahre lang mit eigenem Diener bei der Familie Gortschakow im Schloss der polnischen Könige in Warschau. Er bereiste mit dem Fürsten ganz Polen, die Schweiz und Russland, wurde mit der Ehrendoktorwürde der Universitäten Dorpat und Moskau ausgezeichnet und erhielt vom Zaren den Titel eines kaiserlichen Professors. Seinen Schüler unterrichtete er in allen Fächern, von Mathematik über Sprachen und Philosophie bis zu Schwimmen und Eislaufen. Auf langen Wanderungen vermittelte er dem jungen Prinzen – wie auch all seinen späteren Schülern – die Ehrfurcht vor der Natur, und immer wieder hat er sich – sein Leben lang – zu seinem wichtigsten Ziel bekannt: Seine Schüler zu selbständigem Denken zu erziehen. Daneben schrieb er in seiner freien Zeit Gedichte, Libretti, Dramen, Übersetzungen italienischsprachiger Mozartopern, gab eine Sammlung slawischer Lieder unter dem Titel
Slawische Balalaika heraus und lernte Persisch. Er nahm Kontakt zu Robert Schumann auf, der ihn bald hoch schätzte und im Lauf der Jahre ca. 150 Artikel aus seiner Feder in der
Neuen Zeitschrift für Musik abdruckte, oft an exponierter Stelle.
1838 erschien dann der erste Band von Zuccalmaglios großer Liedersammlung
Deutsche Volkslieder mit ihren Originalweisen, 1840, nach Zuccalmaglios Rückkehr aus Warschau, der zweite. Danach brach Kritik von allen Seiten über ihn herein. Vor allem auch deshalb, weil Wissenschaftler und andere Liedsammler manche Texte zuerst für völlig unveränderte alte Volksliedertexte hielten und erst nach und nach auf Zuccalmaglios Änderungen aufmerksam wurden. Jedes Wort wurde ihm angekreidet, die schönsten Texte als »Fälschungen« bezeichnet – bis zu der Behauptung, er habe sämtliche Lieder komplett selber erfunden. »Sie bedachten kaum,« sagte Zuccalmaglio dazu, »dass sie mich dann zu einem großen Dichter und Tonsetzer machen, dem deutschen Volke nur die mittelmäßigen Gassenhauer zuschreiben würden.« Immer wieder hat er darauf hingewiesen, dass Lieder nie in unveränderter Gestalt überliefert werden, sondern dass jedes Dorf, ja jeder Sänger etwas am Text ändert und dass die Lieder sich im Gesungenwerden weiterentwickeln. Johannes Brahms hat 1894 zweiundzwanzig von Zuccalmaglios Liedern bearbeitet und als
Deutsche Volkslieder mit Klavierbegleitung herausgegeben. Er nannte die zeitgenössische Kritik philiströs und spießbürgerlich.
Nach der Rückkehr aus Warschau hat Zuccalmaglio bis 1847 in Düsseldorf und Köln gelebt, nahm großen Anteil an der Wiederbelebung der Bauarbeiten am Kölner Dom und war mit dem Dombaumeister Ernst Friedrich Zwirner befreundet. Was in den nächsten Jahren in seinem Leben folgte, waren Stellungen als Erzieher, unter anderem in Frankfurt, Hagen und Elberfeld, wo er bei der Familie Aders im ›Wunderbau‹ lebte, einem in einem ehemaligen Steinbruch erbauten Palast im Barockstil mit Gartenterrassen, unterirdischen Grotten, Brunnen, Wasserkünsten und Liebestempeln. Gleichzeitig entfaltete dieser ungemein vielseitig interessierte und gebildete Mann eine rege journalistische Tätigkeit – er veröffentlichte Aufsätze zu Mode, Musik, Jagdrecht, Botanik, Wegebau und Neuanlagen von Eisenbahnen. Obwohl in einigen Bereichen Dilettant, arbeitete er auf vielen Gebieten erfolgreicher als mancher Fachmann – so wurde ein von ihm entworfener Bauplan für eine neugotische Kirche angenommen und realisiert, während der des konkurrierenden Architekten abgelehnt wurde. Er selbst schmückte einen Sitzungssaal mit Fresken aus; die wurden allerdings entfernt, weil er Personen der Obrigkeit karikiert hatte. Mit wachen Sinnen verfolgte er die Entwicklungen und geistigen Strömungen seiner Zeit und war einer der ersten, der sich für das gerade aufgefundene Skelett des Neandertalers interessierte und es als das eines prähistorischen Menschen erkannte. Mit den Mitgliedern der Düsseldorfer Malerschule war er befreundet und wurde von ihnen – schöner Mann, der er war – im Rittersaal von Burg Stolzenfels auf einem Wandfries als Gottfried von Bouillon und als Minnesänger verewigt.
In seinen letzten Lebensjahren zog Zuccalmaglio zur Familie seines Bruders Vinzenz nach Grevenbroich, war aber immer noch viel unterwegs, besuchte seine früheren Schüler und ist 1869 auf einer solchen Reise in Nachrodt an einem Herzschlag gestorben. Er wurde auf dem katholischen Friedhof in Altena begraben. Seinen Grabstein hat man von dort in den oberen Burghof versetzt – eine passendere Gedenkstätte für einen Romantiker als solch alter Schlosshof ist kaum vorstellbar. In unserer Zeit geht es ihm ähnlich wie dem Märchendichter Hans Christian Andersen: sein Name ist bei Vielen vergessen. Aber was er uns hinterlassen hat, ist Allgemeingut geworden.
[1] Bezeichnung für Bürgermeister während der ‚Franzosenzeit’ im Rheinland
[2] Die heutige Höhenburg ist eine zwischen 1890 und 1914 entstandene Rekonstruktion.
[3] 1830 in Königliches Friedrich-Wilhelm-Gymnasium umbenannt. Das Gebäude wurde im 2. Weltkrieg 1943 zerstört, das Gymnasium 1957 an anderer Stelle neu gebaut, aber noch immer in der Severinstraße.
[4] In der Literatur zu Zuccalmaglio liest man zuweilen von seiner angeblichen Preußenbegeisterung, aber davon findet sich nichts in seinen Memoiren oder sonstigen Schriften.
[5] Heute Jelgava in Lettland, damals Hauptstadt von Kurland.
[6] Bekanntlich existierte Polen nach drei Teilungen zu der Zeit nicht mehr.
Für die Abdruckgenehmigung des bislang unpublizierten Textes danken wir der Autorin.