Über das Geburtshaus von Hilde Domin – und ihr Zuhause in Köln Ein Gastbeitrag von Andreas Rossmann Der Text auf der Tafel am Haus Riehler Straße 23 könnte knapper nicht sein: Kein Wort zu viel. Dabei gibt es mehr dazu zu sagen. Viel mehr. Zu viel, als dass es auf eine Tafel passen würde. Die […]
Das erste ParadiesÜber das Geburtshaus von Hilde Domin – und ihr Zuhause in Köln
Ein Gastbeitrag von Andreas Rossmann
Der Text auf der Tafel am Haus Riehler Straße 23 könnte knapper nicht sein:
Kein Wort zu viel. Dabei gibt es mehr dazu zu sagen. Viel mehr. Zu viel, als dass es auf eine Tafel passen würde.
Die Tafel wurde am 3. Dezember 2005 angebracht. Mehr als siebzig Jahre, nachdem Hilde
Domin, die erst 1954 aus dem Exil, das zunächst nach Italien, später nach England und schließlich, für die letzten vierzehn Jahre, in die Dominikanische Republik führte, aus dem Haus ausgezogen war. Mehr als 95 Jahre, nachdem sie hier als Hildegard Dina Löwenstein geboren worden war. Keine drei Monate, bevor sie am 22. Februar 2006 in Heidelberg, wo sie seit 1961 lebte, verstarb. Die kleine Feier in windiger Kälte auf dem Treppenaufgang fand in ihrer Anwesenheit statt. Es war ihr letzter Besuch in Köln.
Das Anbringen der Tafel ist einer Bürgerinitiative zu verdanken, die Anregung ging von der Buchhändlerin Ingeborg Zanders (1921-2013) aus, die Hilde Domin seit 1961 freundschaftlich verbunden war. Dass inzwischen die Psychoanalytische Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf hier residiert, passt ins Bild: In dem Haus, das an die Kindheit einer Künstlerin erinnert, ist die Wissenschaft zu Hause, deren zentrales Thema die Geschichte der Kindheit ist. Zugleich macht die Tafel auf ein Schicksal aufmerksam, wie es auch die Bewohner anderer Häuser in diesem Viertel erlitten haben; die von Gunter Demnig verlegten
Stolpersteine erinnern daran.
Leser von Hilde Domin kennen diese Geschichte. Zwei Kapitel ihrer
Autobiographie Von der Natur nicht vorgesehen (1974) handeln davon. Im Eingangsporträt »Mein Vater. Wie ich ihn erinnere« erzählt die Dichterin, wie sie von hier aus mit dem Fahrrad zur Schule fuhr, während die Mutter sie aus der Straßenbahn (es war schon damals die Linie 16, doch die Schienen lagen noch oberirdisch), überwachte und die Risiken abschätzte; wie sie mit dem Vater, einem promovierten Juristen und angesehenen Anwalt, der am Kaiser-Wilhelm-Ring 3 seine Kanzlei hatte, wenn sie zu Fuß gingen, über seine Fälle, Theaterstücke oder ihre Schulaufgaben sprachen; wie er mit ihr sonntags das Wallraf-Richartz-Museum oder den Kunstverein besuchte oder mit ihr morgens vor der Schule zum Schwimmen ging – »erst hatte ich eine Büchse auf dem Rücken, dann einen Korkgürtel um den Bauch. Damals ging man in kleine hölzerne weißgetünchte Badeanstalten auf dem Rhein. Unsere hieß Noldes …« Hier ist die Dichterin zur Welt gekommen; von hier aus ist sie auch in die Tanzstunde gegangen, wo der zwei Jahre ältere Hans
Mayer ihr Partner war; von hier aus begann sie, sich die Welt zu erschließen.
»Der Stadtteil«, so schreibt Heinrich
Böll in dem Text
Hülchrather Straße Nr. 7, wo – gleich um die Ecke – seine letzte Kölner Adresse war, »ist zum größten Teil nach 1890 erbaut; Zeit einer ersten Bodenspekulation; Jugendstilfassaden, die Straßennamen klingen noch nach dem Triumph, der damals erst zwanzig Jahre zurücklag und noch frisch im Ohr klang: Sedan, Wörth, Belfort, Weissenburg; eine selbstbewusste Zeit, die unerschrocken den beginnenden Jugendstil in seinen verschiedensten popularisierbaren (vulgarisierbaren) Formen aufnahm und eine bemerkenswerte Vorliebe für langhaarige Weiber entwickelte, die über Haustüren melancholisch den Eintretenden begrüßen oder mit gekonnter Tristesse Balkone stützen.« Riehler Straße, nur benannt nach dem nächstnördlichen, 1888 eingemeindeten Vorort, hebt sich erfreulich ideologiefrei davon ab.
Als die Löwensteins, eine liberale, wohlhabende, assimilierte jüdische Familie, hierherzogen, war die Neustadt gerade erst im Halbkreis um die Altstadt gelegt worden. 1881 hatte Josef Stübben mit der Planung begonnen, die 1910 abgeschlossen wurde; erst im Jahr darauf wurde das neubarocke Oberlandesgericht, damals der größte Justizpalast in Preußen, am Reichensperger Platz fertig. Die Riehler Straße hatte noch große Bäume und einen Fußgängerweg in der Mitte: Etwa auf halber Strecke vom Reichensperger zum Deutschen Platz, wie der Ebert-Platz noch hieß, lag das Haus mit der Nummer 23 im Gerichtsviertel, das im Westen von der Neusser Straße und im Osten von der Riehler Straße eingefasst wurde. Besser, standesgemäßer konnte ein Jurist damals in Köln nicht wohnen.
Schon im April 1929 verließ Hilde Domin das Elternhaus, um an der Universität Heidelberg zunächst »Jura, wie mein Vater, natürlich« zu studieren. Zum Wintersemester wechselte sie an die Universität Köln, wo sie sich für Volkswirtschaft und Soziologie einschrieb, im Herbst 1931 an die Friedrich-Wilhelm- (heute: Humboldt-)Universität nach Berlin, zum Sommer 1931 erneut nach Heidelberg, wo sie den Archäologen und Kunsthistoriker Erwin Walter Palm (1910-1988) kennenlernte, mit dem sie bereits im Herbst 1932, noch vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, nach Italien auswanderte und ihr Studium in Rom und Florenz fortsetzte und abschloss. »Ich hatte keine ›repressive‹ Kindheit, im Gegenteil«, schreibt Hilde Domin in
Mein Vater.
Riehler Straße 23, Foto Ludwigs 1973 © RBA 154696
Eine recht genaue Vorstellung von der Wohnung, ihrer Größe und ihrem Grundriss, ihrer Ausstattung und ihrem Komfort, gibt ein späteres, »Meine Wohnungen – ›Mis moradas‹« überschriebenes Kapitel: »Wir wohnten im 2. Stock, und mein Bruder und ich wurden ins Erdgeschoss oder ins Hochparterre getragen, wenn Fliegeralarm war, während des Ersten Weltkriegs […]. Das Speisezimmer hatte bunteingelegte Fenster, damit man den Hinterhof und die Brandmauer nicht sah, die man vom Schlafzimmer aus doch gut kannte, und war mit Schwarzer Eiche getäfelt.«
An die großzügige Wohnung (»mit zehn oder elf Zimmern«) erinnerte sich Hilde Domin in vielen Einzelheiten und Kleinigkeiten: »Das Zimmer nach vorne, zur Riehlerstraße heraus, das durch eine fast wandbreite Schiebetür mit dem Esszimmer verbunden war, und das jetzt offensichtlich als Nähzimmer diente, war in meiner ganzen Schulzeit sicher das wichtigste für mich: Dort stand der hohe glasverkleidete Bücherschrank, ebenfalls aus schwarzer Eiche, und oben drauf eine Bronzebüste, ein Donatellokopf. Rechts war ein schmaler Seitenschrank, in dem Vater die Liköre und die Zigaretten hatte, links Mutters Schrank, in dem sie das Nähzeug und den Schlüsselkorb verwahrte, und ich weiß nicht, was sonst noch alles. […] Im Esszimmer standen riesige schwarze Möbel, aus dem Nürnberger Deutschen Museum kopiert, und darin lagen in rotem Filz die Bestecke, und die Servierbestecke, und was man damals zur Heirat geschenkt bekommen hatte und noch von Eltern und Schwiegereltern dazu erbte. Und das Rosenthalporzellan mit dem goldenen Randstreifen (oder war es Meißen), das außerordentlich modern gewesen sein muss, denn ich stelle es mir heute noch chic vor. Benutzt wurde es nur zwei- oder dreimal im Jahr, bei den förmlichen Einladungen. In diesen Schränken gab es auch die großen Keksbüchsen, was sicher alleine ein Grund war, die Schlüssel abzuziehen. Einen Teil des Silbers und des kostbaren Porzellans, wie auch der Perserteppiche, bekamen wir unsrerseits zur Hochzeit geschenkt…«
Als Hilde Domin »1954 zum erstenmal nach zweiundzwanzig Jahren wieder nach Köln kam«, fielen ihr viele Veränderungen auf: »Die Wohnung war halbiert. In den vorderen Zimmern, den ehemaligen Wohnzimmern, wohnte eine Schneiderin. Unsere Schlafzimmer und den langen Gang, auf dem wir Stelzen gelaufen und Holländer gefahren waren bei schlechtem Wetter oder Rollschuh, wie die Kinder über uns und die Kinder unter uns, schön gehallt muss es haben, und Turngeräte waren auch auf dem Gang, diesen Teil der Wohnung konnte ich nicht sehen.« Einen anschaulichen Eindruck von der repräsentativen Gediegenheit der Wohnung vermittelt ein Foto auf der Website der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft, das den breiten Gang mit Jugendstil-Kronleuchter, verzierter Holztäfelung, großem Garderobenspiegel und Salontüren mit Glasdekor zeigt.
Die alte Colonia, die Stadt, wie sie war, ist, darüber haben Heinrich Böll und andere geschrieben, in den Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs untergegangen. Nicht viel mehr als die gotische Kathedrale ist stehengeblieben. Hilde Domins Gedicht
Köln, das 1964 in ihrem dritten,
Hier betitelten Lyrikband erschienen ist, erinnert daran:
Köln
Die versunkene Stadt
für mich
allein
versunken.
Ich schwimme
in diesen Straßen
Andere gehn.
Die alten Häuser
haben neue große Türen
aus Glas.
Die Toten und ich
wir schwimmen
durch die neuen Türen
unserer alten Häuser.
Ein dezidiert subjektiver Blick wird formuliert: »Die versunkene Stadt / für mich / allein / versunken.« Auch wie sich das lyrische Ich dort bewegt, »ich schwimme« umfasst beides, ohne festen Boden unter den Füßen und unsicher in der Orientierung, unterscheidet sich: »Ich schwimme / in diesen Straßen / Andere gehen.« Der Zugang ist wieder möglich, doch er hat sich verändert: »Die alten Häuser / haben neue große Türen / aus Glas.« Die Dichterin sieht sich und stellt sich auf die Seite der Opfer, solidarisiert sich mit ihnen: »Die Toten und ich.« Mit ihnen kehrt sie zurück. »Wir schwimmen / durch die neuen Türen / unserer alten Häuser.« Nur im Gedenken an die Toten lässt sich »die versunkene Stadt«, die Vergangenheit, wahrnehmen und verstehen, lassen sich »unsere(r) alten Häuser«, zu denen es neue Zugänge gibt (»durch die neuen Türen«), wieder erreichen.
Hilde Domin kann nicht unbelastet zurückkehren, auch wenn »unsere(r) alten Häuser« sich wieder öffnen (lassen) und »neue große Türen aus Glas« haben, wie sie sie am Gericht am Appellhofplatz gesehen hat. Köln ist für sie nicht Heimat und doch mehr als ein realer Ort, auch ein Erinnerungsraum. In einem Brief an ihren Verleger Klaus Piper schreibt sie 1981: »Köln ist die Stadt meiner Kindheit, in Köln kann ich noch meinen Eltern auf der Straße begegnen, in Köln spricht man Kölsch, Köln ist nicht ganz wirklich für mich, hat den Traumcharakter nie ganz verloren. Lebte ich dort, es wäre anders.« Köln ist für Hilde Domin nicht mehr Heimat, das entspräche weder ihrer Leidenserfahrung noch ihrem Selbstverständnis als Schriftstellerin. Für die »Dichterin der Rückkehr« (Hans-Georg Gadamer) ist Heimat, wie es in dem Gedicht
Ars longa heißt, »immer das Wort / das heilige Wort«. In ihrer Dankesrede auf den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund 1983 sagte sie: »Der Glaube an das Wort, an die Dauer des Worts, und im besonderen an das Überstehen des deutschen Worts noch im Munde derer, denen die Zugehörigkeit zu Deutschland und zum deutschen Worte abgesprochen wurde, führt uns hier zusammen. Dies Wort war unsere Heimat, als wir keine andere hatten.« Oder knapper, in einem Gedicht für Christa Wolf: »Hand in Hand mit der Sprache / bis zuletzt.« In Gesprächen kam sie mehrfach darauf: »In irgendeiner Weise ist Köln mein Zuhause. Heimat wäre ein zu großes Wort. Die deutsche Sprache ist meine Heimat.«
Es ist Zufall, dass Hilde Domin, als sie 1954, nach zweiundzwanzig Jahren, wieder nach Köln kam, einen Teil der Wohnung nicht wiedersehen und einen anderen Teil nicht wiedererkennen konnte: »Diese drei Zimmer zur Straße waren völlig verändert, auch die Stuckdecken im Jugendstil waren verschwunden, ich erinnere mich nicht mehr an das Wiedersehen mit ihnen, das im kommenden Jahr auch schon wieder zwei unvorstellbar lange Jahrzehnte zurückliegt.« Und doch ist dieser Zufall ähnlich bezeichnend wie der Umstand, dass hier heute eine Wissenschaft wohnt, deren Therapieverfahren bei frühkindlichen Prägungen und Erlebnissen der Jugend ansetzen.
Hilde Domin hatte in der Riehler Straße 23 eine, so schildert sie es selbst, schöne, behütete und glückliche Kindheit, auch die »erschreckende Genauigkeit«, mit der sie sich an die Wohnung erinnert (»die alte verschnörkelte Türklinke«) und sie nach zweiundzwanzig Jahre Veränderungen (»Meyers Klassiker«) registriert, verweist auf eine starke emotionale Bindung. Die einzige Erfahrung, die dem widerspricht, der Fliegeralarm während des Ersten Weltkriegs, bei dessen Beginn sie fünf Jahre alt war, findet eine bemerkenswert marginale Erwähnung.
Zuhause, nicht Heimat. Den Unterschied reflektiert Hilde Domin in
Das zweite Paradies, ihrem einzigen Roman (»in Segmenten«), der 1968 erschienen ist: »Das Zuhause hat einem nicht wehzutun wie ein Hexenschuss oder ein hohler Zahn. Das Zuhause ist da, und man fühlt es nicht. Wenn man es erst fühlt und betastet, wenn man es erst in die Hand nimmt wie eine zerbrechliche Kostbarkeit, die gleich hinfallen kann – die auch vielleicht schon einmal geleimt wurde –, ist es mit dem Zuhause vorbei. Es ist etwas, was man abgenommen bekommt. Wenn man Glück hat, bekommt man es wieder, aber es ist zuviel Erstaunen dabei. Man freut sich zuviel, als dass es ganz wirklich wäre. Als müsse man dauernd ‚ich atme‘ denken. Das Atmen wäre dann ein Genuss. Eine schreckliche Vorstellung. Das Trauma macht überempfindlich für die Freude. Aber es ist etwas Schizophrenes an ihr. Wie das Zuhause ist die Liebe, wenn man es zuerst begriffen hat, dass sie etwas Widerrufliches sein kann. Das erste Paradies, das zweite Paradies …«
In diesem Sinn war das Haus in der Riehler Straße 23 für Hilde Domin das Zuhause, das erste Paradies. Alle späteren Wohnungen hat sie als »Fluchtwohnungen« bezeichnet. Das Zuhause, aber nicht Heimat, das ergibt sich auch aus dem berühmten Zitat von Ernst Bloch, das als Motto vorangestellt ist: »Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«
Die Wirklichkeit hat die Verlusterfahrung, die Hilde Domin mit dem Haus ihrer Kindheit verbindet, so banal wie einprägsam ins Bild gesetzt. »Kürzlich«, so schreibt sie in »Meine Wohnungen«, »fuhr ich an dem Hause vorbei. Gerade wunderte ich mich noch, dass Böll chauffieren kann, da waren wir schon um die Ecke, und ich vermisste den Mandelbaum am Eingang. ›Ja, da steht jetzt die Mülltonne‹, sagte er sofort, denn er hatte den Mandelbaum gekannt.«
– © Andreas Rossmann, 2022
Andreas Rossmann
geb. 1952 in Karlsruhe, Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie in Heidelberg, London und an der University of East Anglia in Norwich, wo er 1976 in Comparative Literature zum Master of Arts graduierte, 1979 bis 1984 wiss. Mitarbeiter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin. Ab 1986 Kulturkorrespondenz bei der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Nordrhein-Westfalen mit Sitz in Köln. Rossmann arbeitet seit 2018 als freier Autor.
Literatur
- Hilde Domin: Von der Natur nicht vorgesehen. Autobiographisches. München 1974.
- Der Text geht auf die Rede zurück, die Andreas Rossmann am 3. Dezember 2005, als die Tafel am Geburtshaus von Hilde Domin angebracht wurde, gehalten hat. In den Zitaten werden (die abweichende) Interpunktion und Rechtschreibung beibehalten.