Der junge Friedrich Nietzsche (1844-1900) hatte nach dem Abitur noch keine konkrete Vorstellung von seiner universitären Ausbildung. Am 16. Oktober 1864 traf er in der Universitätsstadt Bonn ein, um sich an der theologischen Fakultät zu immatrikulieren. Im darauffolgenden Semester wechselte er von der Evangelisch-theologischen Fakultät zur Philosophischen Fakultät und studiert fortan Klassische Philologie. In Bonn […]
Friedrich Nietzsche singt im GürzenichFriedrich Nietzsche, ca. 1869 © Foto: Gebrüder Siebe, Leipzig
Der junge Friedrich Nietzsche (1844-1900) hatte nach dem Abitur noch keine konkrete Vorstellung von seiner universitären Ausbildung. Am 16. Oktober 1864 traf er in der Universitätsstadt Bonn ein, um sich an der theologischen Fakultät zu immatrikulieren. Im darauffolgenden Semester wechselte er von der Evangelisch-theologischen Fakultät zur Philosophischen Fakultät und studiert fortan Klassische Philologie.
In Bonn galt er in »studentischen Kreisen etwas als musikalische Autorität und außerdem als sonderbarer Kauz.«, mit seinem Eintritt in die Burschenschaft
Franconia kam es zur Begegnung mit vielen musikliebenden Philologen, die durch seine Klavierimprovisationen auf ihn aufmerksam wurden. Nietzsche hatte bereits einige Stücke komponiert und spielte bemerkenswert gut Klavier. Die Priorität unter seinen Interessen hatte das Bonner Musikleben. Bereits wenige Tage nach seiner Ankunft wurde er bei Musikdirektor Caspar Joseph Brambach (1833-1902) vorstellig, um ihm einige seiner Lieder zur Begutachtung vorzulegen. Er wurde Mitglied des städtischen Gesangvereins, besuchte Konzerte und begeisterte sich vor allem für Hector Berlioz und Robert Schumann, insbesondere für Schumanns Vertonung von George G. N. Byrons Manfred. Nietzsche ging so oft ins Konzert und Theater, dass er mehrmals seine Mutter um Geld bitten musste: »Wir besuchten fleißig das Bonner und Kölner Stadttheater« und »fehlten nie im Beethoven-Verein«, notierte Nietzsches Freund Paul Deussen (1845-1919) in seinem Buch
Erinnerungen an Friedrich Nietzsche.
Von Bonn aus fuhr Nietzsche regelmäßig mit seinen Kommilitonen nach Köln. Im Städtischen Theater Köln in der Komödienstraße sah er am 2.1.1865 Carl Devrient in Friedrich Schillers
Wallensteins Tod, ein Gastspiel des Königlichen Hannoverschen Hofschauspiels.
Die Hugenotten, eine Oper von Giacomo Meyerbeer, mit der sächsischen Kammersängerin Jenny Bürde-Ney, besuchte er am 29.1.1865 und am 4.2. des Jahres sah er das »Große musikalischdeklamatorische Patti-Konzert« Es folgte am 17.2.1865 ein weiterer Opernbesuch in Köln:
Der Deserteur, eine Oper in 3 Akten von Ernst Pasqué, Musik von Ferdinand Hiller, unter persönlicher Leitung des Komponisten. Zusammenfassend schrieb Nietzsche an seine Mutter und die Schwester:
»
Meine Erlebnisse beschränken sich in der letzten Zeit auf Kunstgenüsse. So viel und so bedeutendes habe ich in kurzer Zeit gehört, daß ich es selbst kaum glauben mag. Innerhalb weniger Wochen besuchten die bedeutendsten Künstlerinnen Köln und Bonn. Dein Wunsch, liebe Lisbeth, daß ich die Patti hören möchte, ist erfüllt. Was kann ich Euch alles von dem prachtvollen Patticonzert erzählen. Die geniale Niemann- Seebach habe ich kürzlich in den Nibelungen von Fr. Hebbel als Kriemhild gesehn. […] Die Bürde-Ney […] habe ich in den Hugenotten und im Fidelio gehört.«
Ein besonderes Ereignis war für den jungen Nietzsche die Teilnahme am 42. Niederrheinischen Musikfest, das an drei Tagen im Kölner Gürzenich stattfand. – Der Gürzenich in der Martinstraße wurde von 1441 bis 1447 als spätgotischer Festsaalbau auf dem Grundstück der Familie Gürzenich erbaut. Das Bauwerk hatte von Beginn an die Funktion eines städtischen Festhauses. Im Obergeschoss befindet sich der Festsaal, in dem damals Kölner Ehrengäste empfangen, Feste von Kaisern, Fürsten und Bürgern gefeiert, aber auch Krönungsfeiern, Gerichtstage und ein Reichstag abgehalten wurden. Im 17. Jahrhundert wurde das Gebäude vorübergehend als Kauf- und Warenhaus genutzt. Um 1820 wurde die mittelalterliche Festhaustradition wiederbelebt und das Gebäude bekam bald darauf den Stellenwert als wichtigste Kölner Veranstaltungsadresse. Von 1857 bis zur Fertigstellung der Kölner Philharmonie 1986 veranstaltete die Cölner Concert-Gesellschaft im Gürzenich ihre Konzertreihe. Hieraus gingen auch die regelmäßig stattfindenden Gürzenich-Konzerte sowie der Gürzenich-Chor und das Gürzenich-Orchester hervor. Werke von Johannes Brahms, Richard Strauss und Gustav Mahler kamen hier zur Uraufführung. Nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg konnte der Gürzenich 1955 wieder aufgebaut werden. – Zu den populärsten Festivitäten im Kölner Gürzenich gehören heute wie damals zahlreiche Karnevalsveranstaltungen, zudem dient der Gürzenich als Veranstaltungsort für Kongresse, Tagungen und Märkte.
Der Gürzenich von Südosten, 1827, Lithographie von A. Wünsch nach einer Zeichnung von J. P. Weyer, 25 x 20 cm; Kölnisches Stadtmuseum
Am 25. Mai des Jahres 1865 teilte Nietzsche seinem Freund Carl von Gersdorff mit: »
Pfingsten ist in Köln das rheinische Musikfest, bitte komm herüber von Göttingen. Zur Aufführung kommen vornehmlich Israel in Aegypten von Händel, Faustmusik von Schumann, Jahreszeiten von Haydn und vieles andere. Ich bin ausübendes Mitglied . . . Alles Nähere findest Du in den Zeitungen«. Im 19. Und 20. Jahrhundert war das
Niederrheinische Musikfest eines der bedeutendsten Musikfeste im Bereich der Klassischen Musik. Von 1818 bis 1958 fand es mit einigen Unterbrechungen insgesamt 112 Mal im Wechsel mehrerer Städte, überwiegend in Aachen, Düsseldorf und Köln, statt.
Über das 42.
Niederrheinische Musikfest berichtete die
Kölnische Zeitung am 13.5.1865, dass auch 72 Sänger aus Bonn teilnehmen sollten, darunter befand sich auch der Student Friedrich Nietzsche: »
Unter den vielen Festen, welche im Laufe dieses Jahres in unserer Stadt gefeiert werden, dürfte das Niederrheinische Musikfest eine hervorragende Stellung einnehmen. Die Vorbereitungen zu demselben nahen der Vollendung und berechtigen zu großen Erwartungen. Zu dem stattlichen hiesigen Chore, der bereits seit Ostern zu fleißigen Proben drei Mal wöchentlich im Gürzenich unter Hiller’s bewährter Leitung sich versammelt, haben die meisten Städte Rheinlands und Westfalens zahlreiche Mitwirkende angemeldet, so Bonn allein 72. Das Orchester wird, nachdem mit einer großen Zahl der besten Künstler Deutschlands und Belgiens Engagements abgeschlossen, jene gewaltige Tonfülle entwickeln, wie sie nur bei Musikfesten das Ohr des Kunstfreundes entzücken kann.«
Da die Teilnahme an den Hauptproben am 2., 3., 5. und 6. Juni für alle Sänger vorgeschrieben war, weilten Nietzsche und seine Bonner Chorkollegen insgesamt fünf Tage in Köln. Gleichzeitig wurde die Internationale landwirtschaftliche Ausstellung in Köln, die vom 2. Juni bis 4. Juli 1865 dauerte, eröffnet, so dass in der Stadt eine weltstädtische Atmosphäre zu bemerken war. In einem Brief an seine Schwester berichtete Nietzsche von seinen Eindrücken:
»[…] Ich kann Dir diesmal von wunderschönen Tagen erzählen. Am Freitag den 2ten Juni, reiste ich nach Köln herüber zum niederrheinischen Musikfest. An demselben Tage wurde dort die internationale Ausstellung eröffnet. Köln machte in diesen Tagen einen weltstädtischen Eindruck. Ein unendliches Sprachen- und Trachtengewirr – ungeheuer viel Taschendiebe und andre Schwindler – alle Hotels bis in die entlegensten Räume gefüllt – die Stadt auf das anmutigste mit Fahnen geschmückt – das war der äußere Eindruck. Als Sänger bekam ich meine weißrote seidne Schleife auf die Brust und begab mich in die Probe. Du kennst leider den Gürzenichsaal nicht, ich habe Dir aber in den letzten Ferien eine fabelhafte Vorstellung erweckt durch den Vergleich mit dem Naumburger Börsensaal. Unser Chor bestand aus 182 Sopranen, 154 Alten, 113 Tenören und 172 Bässen. Dazu ein Orchester aus Künstlern bestehend von etwa 160 Mann, darunter 52 Violinen, 20 Violen, 21 Cellis und 14 Contrebässe. Sieben der besten Solosänger und Sängerinnen waren herangezogen worden. Das Ganze wurde von Hiller dirigiert. Von den Damen zeichneten sich viele durch Jugend und Schönheit aus. Bei den drei Hauptkonzerten erschienen sie alle in Weiß, mit blauen Achselschleifen und natürlichen oder gemachten Blumen im Haar. Eine jede hielt ein schönes Bukett in der Hand. Wir Herren alle in Frack und weißer Weste. Am ersten Abend saßen wir noch bis tief in die Nacht hinein zusammen und ich schlief endlich bei einem alten Frankonen auf dem Lehnstuhl und war den Morgen ganz taschenmesserartig zusammengeknickt. […]«
Über die Eröffnung des Musikfestes mit Felix Mendelssohns Paulus-Ouvertüre und Georg Friedrich Händels Israel in Ägypten, in dem die über 700 Mitwirkenden ihren »Haupt-Triumph« feierten, unterrichtete Nietzsche seine Schwester: »
Den Sonntag war das erste große Konzert. ›Israel in Ägypten‹ von Händel. Wir sangen mit unnachahmlicher Begeisterung bei 50 Grad Reaumur. Der Gürzenich war für alle drei Tage ausgekauft. Das Billett für das Einzelkonzert kostete 2-3 Taler. Die Ausführung war nach aller Urteil eine vollkommene. Es kam zu Szenen, die ich nie vergessen werde. Als Staegemann und Julius Stockhausen ›der König aller Bässe‹ ihr berühmtes Heldenduett sangen, brach ein unerhörter Sturm des Jubels aus, achtfache Bravos, Tusche der Trompeten, Dacapogeheul, sämtliche 300 Damen schleuderten ihre 300 Buketts den Sängern ins Gesicht, sie waren im eigentlichsten Sinne von einer Blumenwolke umhüllt. Die Szene wiederholte sich, als das Duett da capo gesungen war.«
Das Ende dieses ersten Pfingsttages verbrachte Nietzsche in geselliger Runde mit dem Kölner Männergesangverein in der Gürzenich-Restauration mit »
carnevalistischen Toasten und Liedern, worin der Kölner blüht, unter vierstimmigem Gesänge und steigender Begeisterung. […] Um 3 Uhr morgens machte ich mich mit 2 Bekannten fort; und wir durchzogen die Stadt, klingelten an den Häusern, fanden nirgends ein Unterkommen, auch die Post nahm uns nicht auf – wir wollten in den Postwägen schlafen – bis endlich nach anderthalb Stunden ein Nachtwächter uns das Hôtel du Dome aufschloß. Wir sanken auf die Bänke des Speisesaals hin und waren in 2 Sekunden entschlafen. Draußen graute der Morgen. Nach 11/2 Stunden kam der Hausknecht und weckte uns, da der Saal gereinigt werden mußte. Wir brachen in humoristisch verzweifelter Stimmung auf, gingen über den Bahnhof nach Deutz herüber, genossen ein Frühstück und begaben uns mit höchst gedämpfter Stimme in die Probe. Wo ich mit großem Enthusiasmus einschlief (mit obligaten Posaunen und Pauken). Um so aufgeweckter war ich in der Aufführung am Nachmittag von 6-11 Uhr. Kamen darin doch meine liebsten Sachen vor, die Faustmusik von Schumann und die A-dur-Symphonie von Beethoven. Am Abend sehnte ich mich sehr nach einer Ruhestätte und irrte etwa in 13 Hotels herum, wo alles voll und übervoll war. Endlich im 14ten, nachdem auch hier der Wirt mir versicherte, daß alle Zimmer besetzt seien, erklärte ich ihm kaltblütig, daß ich hier bleiben würde, er möchte für ein Bett sorgen. Das geschah denn auch, in einem Restaurationszimmer wurden Feldbetten aufgeschlagen, für eine Nacht mit 20 Gr. zu bezahlen.Am dritten Tag endlich fand das letzte Konzert statt, worin eine größere Anzahl von kleineren Sachen zur Aufführung kam. Der schönste Moment daraus war die Aufführung der Symphonie von Hiller mit dem Motto Es muß doch Frühling werden, die Musiker waren in seltner Begeisterung, denn wir alle verehrten Hiller höchlichst, nach jedem Teile ungeheurer Jubel und nach dem letzten eine ähnliche Szene nur noch gesteigert. Sein Thron wurde bedeckt mit Kränzen und Buketts, einer der Künstler setzte ihm den Lorbeerkranz auf, das Orchester stimmte einen 3fachen Tusch an, und der alte Mann bedeckte sein Gesicht und weinte. Was die Damen unendlich rührte.«
Die Begeisterung dieser mehrtägigen musikalischen Erlebnisse in Köln klangen noch lange bei Nietzsche nach, von einem Genuss höchsten Ranges schrieb er über das
Niederrheinische Musikfest in Briefen an seine Schwester. Nietzsches Zeit am Rhein endete nach zwei Semestern. Im Herbst 1865 setzte er das Studium schließlich in Leipzig fort, unter anderem weil sein Lehrer Friedrich Ritschl (1806-1876) dorthin berufen wurde. – Nicht unerwähnt soll eine weitere Begebenheit bleiben, die Nietzsche mit Köln verbindet. Neben den kulturellen Anziehungspunkten gab es in der Rheinmetropole auch andere Vergnügungsstätten für die Bonner Studenten. Im Februar 1865 reiste der junge Nietzsche alleine von Bonn nach Köln und ließ sich von einem Dienstmann die Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen. Am Ende des Rundgangs forderte er seinen Begleiter auf, ihn in ein Restaurant zu führen. Der Dienstmann missverstand und brachte ihn in eines der Kölner Bordelle, »ein übel berüchtigtes Haus. Ich sah mich«, so berichtete Nietzsche seinem Freund Deussen am darauffolgenden Tag, »plötzlich umgeben von einem halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsvoll ansahen. Sprachlos stand ich eine Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf ein Klavier als auf das einzige seelenhafte Wesen in der Gesellschaft los und schlug einige Akkorde an. Sie lösten meine Erstarrung, und ich gewann das Freie.«
– © Gabriele Ewenz, 2024
Gabriele EwenzDr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Leiterin des Heinrich-Böll-Archiv und des Literatur-in-Köln Archiv (LiK)
Literatur- Friedrich Nietzsche: Brief an Elisabeth Nietzsche, 11.6.1865. In: Friedrich Nietzsche. Briefe I/2. 1864-1869. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, New York 1975, Nr. 461, S. 61-64.
- Kölnische Zeitung, 13.5.1865.
- Paul Deussen: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Leipzig 1901, S. 24.