Notizen über Kalk und seinen Stadtgarten Wenn Sie das nächste Mal wieder nach Köln kommen, wagen Sie das Unglaubliche, das in keinem Reiseführer steht und fahren mit der Linie 1 oder 9 vom Neumarkt oder Heumarkt hinüber nach Kalk. Als Erstes werden Sie natürlich den Rhein überqueren, der für die meisten Kölnerinnen und Kölner viel […]
Metthäppchen, Mammutbäume und MultikultiNotizen über Kalk und seinen Stadtgarten
Wenn Sie das nächste Mal wieder nach Köln kommen, wagen Sie das Unglaubliche, das in keinem Reiseführer steht und fahren mit der Linie 1 oder 9 vom Neumarkt oder Heumarkt hinüber nach Kalk. Als Erstes werden Sie natürlich den Rhein überqueren, der für die meisten Kölnerinnen und Kölner viel mehr als ein Fluss ist, nämlich ein Ozean, hinter dem eine andere Welt anfängt, die sog. Schäl Sick, auf der in alter Zeit nicht die Römer oder die Erzbischöfe regiert haben, sondern germanische Räuber und Vandalen, die einem einäugigen, schielenden Gott huldigten. Viele behaupten sogar, dass hier Sibirien anfange. Aber ich kann Ihnen versichern, dass das stark übertrieben ist.
Wenn Sie den Rhein überqueren, setzen oder stellen Sie sich bitte so, dass Sie den Dom, Groß Sankt Martin und den Rathausturm sehen können. Das Panorama ist überwältigend. Luise Straus-Ernst, eine Kölner Schriftstellerin, die in Auschwitz ermordet wurde, hat sogar einmal gesagt, dass Rechtsrheinische sei überhaupt nur besiedelt und erfunden worden, damit man diesen großartigen Blick auf den Dom und Groß St. Martin habe.
An der Haltestelle Kalk Post verlassen Sie bitte die Bahn, gehen Sie hinauf und treten Sie in eine andere Welt ein. Vielleicht blinzeln Sie erst einmal ein wenig, um zu glauben, dass Sie hier immer noch in Köln und nicht in einem Banlieu von Brüssel oder Paris sind. Je nachdem, ob Sie die U-Bahn-Haltestelle an der rechten oder linken Seite verlassen, werden Sie entweder vor der Kalker Post oder den Köln-Arcaden landen. Der Platz vor der Post war früher ein Junkie-Treffpunkt. Davon merkt man aber heute nichts mehr. Werfen Sie einen Blick auf das Postgebäude, das aus dem Jahr 1899 stammt, als Kalk noch eine eigenständige kleine Stadt war. Es wirkt wie eine Trutzburg aus Sandstein. Immer noch wie aus der Kaiserzeit, auch wenn die Erker und Türmchen, die es ursprünglich hatte, nicht mehr da sind.
Neben Micki’s Bar oder Trattoria, wo Sie sich mit einem vorzüglichen Espresso stärken können, bietet ein Marokkaner frisches Obst und Gemüse an, Nüsse, Schafskäse, Lammfleisch, Couscous und exotische Gewürze. Sie können ruhig eintreten. Die Preise sind sehr zivil und die Betreiber sehr freundlich. Mit einer Tüte voller Pistazienkerne ausgestattet treten Sie nun Ihren Gang über die Kalker Hauptstraße an, der Sie bis zum Stadtgarten, meinem Lieblingsort, führen wird.
Ob Sie die linke oder rechte Straßenseite wählen, ist eigentlich egal. Da ist die gleiche bunte Folge von türkischen Döner-Läden, arabischen Juwelieren, indischen Boutiquen, nordafrikanischen Schnellfriseuren und sagenhaft preiswerten Second-Hand-Shops, wo Sie sich für zehn Euro vollständig neu einkleiden können. Kaum was Deutsches dazwischen, beklagen sich Manche, Aber wer das nicht mag, kann ja in den Villenvorort Hahnwald gehen. Dort gibt es unter Garantie keine Migranten und erst recht keine „Nafris“, wie die Nordafrikaner hier eine Zeit lang despektierlich genannt wurden, sogar in der Presse und von der Polizei.
Eingangstor zum Kalker Stadtgarten © Klaus Kammerichs
Dann endlich, je nach Tempo dauert das fünf bis zehn Minuten, erreichen Sie den schon erwähnten Kalker Stadtgarten, meinen Lieblingsort. Er liegt etwas versteckt zwischen dem Café Schlechtrimen und zwei alten Pavillons, die aussehen wie aus einem Film über die Schneewittchen und die Sieben Zwerge. Am reich verschnörkelten, schmiedeeisernen Eingangstor, das wie fast alles hier noch aus dem Jahr 1912, dem Eröffnungsjahr, stammt, werden Sie lesen, dass der Park von der Drogenhilfe Vision sauber gehalten wird. Haben Sie keine Angst! Die jungen Leute machen das ganz vorzüglich! Kein Müll, kein Unkraut, keine leere Flasche ist zu sehen. Die Wege sind frisch geharkt, die Sträucher liebevoll beschnitten und begossen. Auf den sauberen, wenn auch etwas verwitterten Bänken können Sie sich beruhigt niederlassen und je nach Präferenz lesen, tief durchatmen oder Ihren Blick auf eine fast südliche Fülle von Bäumen richten: Zieräpfel, Kastanien, Platanen, Ahorn, japanische Kirschen, Liefern, Zedern und viele mehr, in der Mitte ein über hundertjähriger Mammutbaum mit kegelförmiger Krone und rotbrauner Rinde, der den Ersten und den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, die Trümmerfrauen und den Niedergang der einst blühenden chemischen Industrie, die ersten Gastarbeiter und wahrscheinlich auch Karl Küpper, den legendären kölschen Büttenredner und Karnevalisten, der wenige Meter entfernt, auf der Kalker Hauptstraße 215, gewohnt hat und dort während der NS-Zeit dichtete:
Es stand ein Baum am Waldesrand und war organisiert. Er war im NS-Baumverband, damit ihm nichts passiert.
Wenn Sie Ihren Spaziergang am Nachmittag machen, werden Sie bestimmt nicht allein sein. Sie werden Schüler und Studenten treffen, Eltern, Großeltern, Neu- und Alt-Kalker, Rentner, die ein Stück Kuchen aus dem Café Schlechtrimen verzehren. Vor allem aber Kinder nahezu aller Hautfarben, die auf dem Spielplatz ihre ersten Schritte machen, Karussell fahren, Sandburgen bauen, rutschen, wippen und jubeln, ob auf Arabisch, Türkisch, Russisch, Italienisch, Hindi, Urdu, Chinesisch oder Kinderkauderwelsch. Um 18 Uhr macht der Stadtgarten leider zu, damit niemand unter den herrlichen Bäumen sein Haupt niederlegt. Aber damit ist Ihr Ausflug noch längst nicht zu Ende. Gleich nebenan gibt es zwei kölsche Kneipen, in denen Sie noch so richtig kölsch essen und trinken können, Metthäppchen, kölschen Kaviar, Kalker Gulasch, Speckpfannkuchen und den berühmten halben Hahn, der gar kein Hahn ist, sondern ein Stück Gouda.
Ich glaube, ich kann Ihnen versprechen, dass Sie wiederkommen, wenn Sie noch einmal in Köln sind. Und dass Sie vielleicht irgendwann lieber in den Kalker Stadtgarten gehen als an den Aachener Weiher oder in die Flora. Denn Metthäppchen, Mammutbäume und Multikulti – wo findet man das schon, außer in Kalk?
–
Eva Weissweiler