Ein Gastbeitrag von Michael Bienert »Es war grauenhaft, wie wir hier gehaust haben – es wurde immer schlimmer. Es regnete nicht, es goss durch die Decke in den armseligen Küchenraum. Möbel, Herd und Matratzen wurden eines Morgens mit Gewalt fortgeholt usw. Die Eltern schlafen augenblicklich in einem Zimmer in der Nähe. Ich schlafe in der […]
Irmgard Keuns Heimathafen – Eupener Straße 19Ein Gastbeitrag von Michael Bienert
Irmgard Keun, Eupener Straße 19, 1955 © Foto: Peter Fischer / Historisches Archiv Stadt Köln, Best. 1401, Fo 42I, Bd. 1
»Es war grauenhaft, wie wir hier gehaust haben – es wurde immer schlimmer. Es regnete nicht, es goss durch die Decke in den armseligen Küchenraum. Möbel, Herd und Matratzen wurden eines Morgens mit Gewalt fortgeholt usw. Die Eltern schlafen augenblicklich in einem Zimmer in der Nähe. Ich schlafe in der Küche auf einem Notbett wie ein Fakir auf den nackten Sprungfedern, ohne Keile. Aber! Über Küche und Gartenzimmer ist eine Asphaltdecke gezogen worden und die Küche ist jetzt warm und trocken«, schreibt Irmgard Keun am 3. April 1946 aus ihrem kriegsbeschädigten Elternhaus in der Eupener Straße 19 an ihre Freundin Annemarie Schäfer. Sie hatte zwölf Jahre Diktatur und den Zweiten Weltkrieg überlebt. Ihr Bruder war im Feldzug gegen die Sowjetunion umgekommen, aber die Eltern waren noch da. Nun ging es darum, sich buchstäblich auf Trümmern ein neues Zuhause und eine neue Existenz aufzubauen. Ein eigenes Zimmer war da schon fast ein Luxus: »Ich habe oben ein Zimmer – früheres Arbeitszimmer von meinem Vater. Es kommt mir vor wie ein Märchen, dass aus diesen Trümmern ein Zimmer entstehen konnte – frage mich nicht, was es mich gekostet hat. In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so viel Energie aufgebracht wie für dieses Zimmer. Glasfenster und Tür sind schon drin. Morgen werden Wände, Decke und Fussboden gestrichen.«
Einige Wochen später, am 30. Mai 1946, war Irmgard Keun zum ersten Mal im Kölner Studio des ›Nordwestdeutschen Rundfunks‹ eingeladen, um über ihre Zeit in der Emigration zu sprechen. Im selben Jahr druckte die
Neue Berliner Illustrierte in der Sowjetzone ihren Roman
Nach Mitternacht aus der Exilzeit nach. Die in der NS-Zeit verbotene und tot geglaubte Autorin war wieder da! Vor allem der Rundfunk verhalf ihr in den Westzonen zu neuer Popularität. Der Redakteur Lutz Kuessner, Leiter der Abteilung Varieté und Kabarett beim ›Nordwestdeutschen Rundfunk‹, suchte Keun in ihrer Ruine auf, weil er dringend eine Mitarbeiterin suchte, die nicht Mitglied der Nazipartei gewesen war. Küssner überredete Keun, Sketche für die Sendung
Kabarett der Zeit zu schreiben. Auch bekam sie die Möglichkeit, ältere und neuere Texte selbst im Rundfunk zu lesen. Ihre zeitkritischen Glossen flossen in einen neuen Gegenwartsroman über den Kölner Alltag der ersten Nachkriegsjahre ein.
Ferdinand, der Mann mit dem goldenen Herzen erschien allerdings erst nach der Währungsreform und Gründung der Bundesrepublik, ein Grund für seinen mäßigen Erfolg: Im Deutschland Adenauers und der Wirtschaftswunders mochten nur noch wenige an die Schiebereien der Trümmerjahre und Kontinuitäten zur Nazizeit erinnert werden.
Eupener Straße 19 © Foto: Michael Bienert, 2022
Das wiederaufgebaute Trümmerhaus in der Eupener Straße 19, Keuns Lebensmittelpunkt und Schreibort bis in die 1960er-Jahre, steht noch. Die Fassade ist aber bis zur Unkenntlichkeit modernisiert. Trotzdem verrät ein Spaziergang durch die Straße einiges über das Milieu, dem die Autorin entstammte. Das Elternhaus wird ursprünglich ähnlich ausgesehen haben wie die Reihenhäuser auf der anderen Straßenseite: Kleine zweistöckige Villen mit Vorgarten für wohlhabende, aber nicht schwerreiche Leute. Irmgard Keuns Vater war Geschäftsführer und Teilhaber der Cölner Benzin-Raffinerie (CBC). Das Fabrikgelände befindet sich heute noch an der Eupener Straße 144 (in dem eingangs zitierten Schreiben von 1946 als Postadresse Keuns angegeben). Der Lebensweg der Autorin war mit diesem Unternehmen eng verknüpft. Ohne die Raffinerie wäre sie nie eine bekannte Kölner Autorin geworden.
Cölner Benzin Raffinerie, Eupener Straße 144 © Foto: Michael Bienert, 2022
Denn tatsächlich war Irmgard Keun gebürtige Berlinerin, genauer: Charlottenburgerin, zur Welt gekommen in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms. 1905, in ihrem Geburtsjahr, war Charlottenburg noch eine selbständige und schwerreiche Gemeinde im Westen der Hauptstadt Berlin. Ihr Geburtshaus in der Meinekestraße 6 ist erhalten und mit einer Gedenktafel versehen. Auch die ehemalige Mädchenschule, in der sie eingeschult wurde, existiert noch. 1913 zog die Familie Keun nach Köln um, weil der Vater die Benzinraffinerie dort in Schwung bringen sollte. Seit 1920/21 lebte die Familie unweit der Fabrik in der Eupener Straße 19. Um diese Zeit beendete Irmgard Keun ihre Schullaufbahn mit der zehnten Klasse des Mädchen-Lyzeums Teschner in Köln. Erlebnisse in ihrer Schulzeit und während des Ersten Weltkriegs in Köln finden sich in ihrem Buch
Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften wieder, das 1936 in einem Exilverlag erschien und zu ihren meistgelesenen zählt.
Nach der Schulzeit lernte Irmgard Keun Hauswirtschaft, Stenotypie, Schreibmaschine und Fremdsprachen, arbeitete als Stenotypistin für die ›Westdeutsche Gardinen Aktien-Gesellschaft‹ im Schwerthof und im väterlichen Betrieb. Als es der Firma nach dem Ende der Inflation besser ging, ermöglichten ihr die Eltern in der Mitte der 1920er-Jahre den Besuch der Kölner Schauspielschule, die dem Stadttheater angeschlossen war. Hier begegnete sie erstmals ihrem späteren Ehemann, dem 23 Jahre älteren Regisseur Johannes Tralow. Von 1927 bis 1929 war Keun als Schauspielerin in Hamburg und Greifswald engagiert, ohne durchschlagenden Erfolg. Danach kehrte sie nach Köln in ihr Elternhaus in der Eupener Straße zurück und entdeckte in den Jahren der Weltwirtschaftskrise das Schreiben als ihre eigentliche Berufung.
Anzeige im
Vorwärts vom 18. Dezember 1932, Archiv Michael Bienert
Mit dem Manuskript ihres ersten Romans
Gilgi – eine von uns, der in Köln spielt, ging Irmgard Keun 1931 nach Berlin, fand dort den richtigen Verlag und wurde schlagartig ein Star des Literaturbetriebs. Das Buch wurde 1932 verfilmt, im selben Jahr erschien Keuns zweiter Roman
Das kunstseidene Mädchen. Wie in
Gilgi ist die Hauptfigur Doris eine ausgebildete Stenotypistin, die nach einem glanzvolleren Leben strebt. Doris ergattert ein Engagement am Kölner Stadttheater und flieht von dort mit einem gestohlenen Pelz nach Berlin. Beide Romane wurden nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 verboten, konfisziert und vernichtet. Die Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller und die Reichsschrifttumskammer blieb der Autorin verwehrt, damit hatte sie faktisch Berufsverbot. Im Oktober 1933 verließ sie Berlin und lebte danach wieder überwiegend in Köln bei ihren Eltern.
Irmgard Keun publizierte weiterhin ohne Genehmigung in Zeitungen und Zeitschriften des Dritten Reiches und wurde deswegen 1935 von der Reichsschrifttumskammer mit einer Geldstrafe belegt. Redakteure der
Frankfurter Zeitung bemühten sich um Keuns Aufnahme in die Kammer, als dies endgültig scheiterte, reiste Keun am 4. Mai 1936 aus Köln ins Exil nach Ostende ab. Ein Exilverlag in Amsterdam garantierte ihr Vorschüsse, auch die Eltern unterstützten sie bei ihrer Emigration. Im Ausland veröffentlichte sie 1937 ihren Roman
Nach Mitternacht, in dem sie hellsichtig die Transformation der deutschen Gesellschaft unter der NS-Diktatur beschrieb. Auch in diesem Buch ist Köln einer der Schauplätze. Die Eltern fingen die Tochter wieder auf, als sie 1940 heimlich nach Deutschland zurückkehrte. Zuvor hatten Zeitungen im In- und Ausland gemeldet, sie habe in Amsterdam Selbstmord begangen, wo Keun nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht festsaß.
Das Elternhaus in der Eupener Straße 19 war für Irmgard Keun ein Heimathafen, der ihr immer offenstand, wenn ihre Bemühungen, sich eine unabhängige Existenz aufzubauen, scheiterten. Mindestens einmal erlebte sie dort einen schweren Bombenangriff auf Köln. Im Jahr 1943 wurde das Haus schwer beschädigt. Mit ihren Eltern kam Keun bis Kriegsende in Bad Hönnigen im Hotel Gülden unter, außerdem hatte sie ein Zimmer in Bad Godesberg. 1946 begann sie damit, die Ruine in Braunsfeld wieder bewohnbar zu machen.
Seit 1951 lebte als Keun alleinerziehende Mutter, unterstützt von den Eltern und Freunden wie dem Ehepaar Böll, in der Eupener Straße 19. Wer der Vater ihrer Tochter Martina war, blieb ihr Geheimnis. Sie hatte etliche Affären, wollte aber nicht von einem Mann abhängig sein. Nach dem Tod beider Elternteile verlor sie völlig die Kontrolle über ihr Leben. Seit den 1930er-Jahren war Keun Alkoholikerin. Sie besaß eine anziehende Persönlichkeit, doch ihr Suchtverhalten war für wohlmeinende Freunde und Kollegen auf Dauer kaum zu ertragen. Auch mit Geld konnte sie nicht umgehen. So rutschte sie immer tiefer in Isolation und Schulden hinein. 1966 wurde das Haus in der Eupener Straße zwangsversteigert. Bis 1972 lebte Irmgard Keun als Psychiatriepatientin im Landeskrankenhaus Bonn, weil es niemanden sonst gab, der sie hätte aufnehmen können oder wollen. In dieser Zeit wurde sie von einer jüngeren Generation als bedeutende Autorin der Weimarer Republik und des Exils wiederentdeckt. Irmgard Keun durfte die Klinik verlassen und zu einer Freundin ziehen, ab 1975 lebte sie in einer eigenen kleinen Wohnung in der Breiten Straße 115 in Bonn. Dort hängt mittlerweile eine Gedenktafel, anders als an ihrer letzten Adresse in Köln. Von 1977 bis zu ihrem Tod 1982 lebte sie im Haus Baden, Trajanstraße 10, ein paar Schritte entfernt vom alten Universitätsgebäude in der Claudiusstraße 1. Davor ist Irmgards Keuns Name in eine Gehwegplatte gemeißelt, neben den Namen anderer Autorinnen und Autoren, deren Bücher am 17. Mai 1933 an dieser Stelle verbrannt wurden.
– ©
Michael Bienert, 2022