Das Justizgebäude am Reichenspergerplatz wurde von 1907 bis 1911 im neubarocken Stil errichtet und war damals das größte Gerichtsgebäude in Preußen. Das neue, palastartige Gerichtsgebäude kostete 5,6 Millionen Mark und wurde am 7. Oktober 1911 seiner Bestimmung übergeben. Zur Zeit der Einweihung war das Gerichtsgebäude das größte in Deutschland mit 34 Sitzungssälen, 400 Geschäftszimmern, mit […]
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Heinrich Böll – Oberlandesgericht KölnOberlandesgericht Köln, 2012. © Foto: Reinhardhauke, CC BY-SA 3.0
Das Justizgebäude am Reichenspergerplatz wurde von 1907 bis 1911 im neubarocken Stil errichtet und war damals das größte Gerichtsgebäude in Preußen. Das neue, palastartige Gerichtsgebäude kostete 5,6 Millionen Mark und wurde am 7. Oktober 1911 seiner Bestimmung übergeben. Zur Zeit der Einweihung war das Gerichtsgebäude das größte in Deutschland mit 34 Sitzungssälen, 400 Geschäftszimmern, mit einer imposanten Eingangshalle und Fluren von mehr als 4 km Gesamtlänge. Dazu zählt auch eine für damalige Zeiten moderne technische Ausrüstung wie elektrisches Licht, Fernsprechsammelanlage und Aufzug. Das schlossartige Bauwerk sollte ein Symbol für die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber Königshäusern und Kirche sein. Ausdruck dafür ist auch eine Darstellung der römischen Göttin Justitia im Fries über dem Hauptportal. Die richtende Göttin der Gerechtigkeit ist dort in einem Relief ohne Augenbinde dargestellt – Ausdruck dafür, dass die Justiz zwar blind ist gegen Standesunterschiede, aber nicht blind gegenüber dem Menschen, dem sie in die Augen schaut.
Fries über dem Hauptportal des OLG Köln, Relief mit der Göttin Justitia. © Foto: CEphoto, Uwe Aranas CC BY-SA 3.0
Von 1969 bis 1982 wohnte Böll in der
Hülchrather Straße ganz in der Nähe des Kölner Oberlandesgerichts. In dem 1972 veröffentlichten Essay
Hülchrather Straße Nr. 7 erwähnte Böll auch das Gerichtsgebäude am Reichenspergerplatz:
»Beherrschend für das Viertel ist das große Schloß mit der weitläufigen Fassade, es zieht viele Besucher an, weil in ihm die große Dame mit den verbundenen Augen residiert; sie entscheidet über Ehen, Scheidungen, Miet- und Wohnungsstreit, Beleidigungsklagen, klärt Besitzverhältnisse. Es wäre ungerecht zu sagen, die Dame in ihrem Schloß wäre unproduktiv; eins wird ganz gewiß in ihrem Herrschaftsbereich produziert: Staub, jener besondere Staub, der sich in und auf Akten sammelt.«
Heinrich Böll: Hülchrather Str. Nr. 7
Die von Böll erwähnte »Dame mit den verbundenen Augen« ist die traditionelle Darstellung der Justitia mit Binde vor den Augen und einer Waage in der Hand. Eigentlich hätte ihm der Fries mit der Justitia ohne Augenbinde über dem Hauptportal auffallen müssen, da er in den 1970er Jahren in zahlreiche Rechtsstreitigkeiten verwickelt war. Angefangen von Schadensersatzklagen gegen den WDR im Zusammenhang mit dem Fernsehfilm
Fedor M. Dostojewski, der am 10. Oktober 1972 mit einem Vergleich vor dem Oberlandesgericht Köln (OLG) endete, über eine Unterlassungsklage gegenüber dem ›ZDF-Magazin‹ Moderator Gerhard Löwenthal bis hin zu dem mit großer medialer Begleitung stattgefundenen Prozess gegen den Journalisten Matthias Walden und den ›Sender Freies Berlin‹ (SFB).
Heinrich Böll mit seinem Anwalt Hans Jürgen Prinz und seiner Schwester Gertrud Böll vor dem OLG, Februar 1975 © Foto: F.W. Holubovsky
In der Spätausgabe der Tagesschau machte Matthias Walden am 21. November 1974 mit teils falschen, teils ungenauen oder aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten Böll für ein Attentat auf den Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann mitverantwortlich. Böll verklagte Walden und den SFB daraufhin vor dem Kölner Landgericht auf die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Die Klage wurde zurückgewiesen. Böll ging jedoch in die nächste Instanz – nicht, weil ihm an der persönlichen Auseinandersetzung mit Walden gelegen war, sondern weil er von einem Gericht klären lassen wollte, »wo die Grenzen zwischen Meinungsfreiheit und Verleumdung verlaufen«.
In zweiter Instanz sprach sich das Oberlandesgericht im Mai 1976 für eine Teilzahlung des Schmerzensgeldes aus. Nachdem dieses Urteil zwei Jahre später im Mai 1978 vom Bundesgerichtshof (BGH) aufgehoben wurde, legte Böll eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVG) mit der Begründung ein, dass es in diesem Rechtsstreit um eine Abwägung der Grundrechte des Persönlichkeitsschutzes und der Pressefreiheit ginge. Im Juli 1980 wurde das BGH-Urteil durch das BVG aufgehoben, das die Klage zur erneuten Verhandlung an den BGH zurückwies, da in diesem Fall das Grundrecht des Persönlichkeitsschutzes höher zu bewerten sei als das der Pressefreiheit. Nach sieben Jahren Rechtsstreit entschied der Bundesgerichtshof im Dezember 1981 dann zugunsten Heinrich Bölls.
Daneben schrieb Heinrich Böll auch Gutachten für angeklagte Schriftstellerkollegen. »Als Autor ist man manchmal gezwungen, Gesetzesübertretungen in Erwägung zu ziehen, um ein Kunstwerk zu schaffen.« (KStA, 10.11.1976) So verteidigte Heinrich Böll den Kölner Schriftsteller
Günter Wallraff, der im Urkundenfälschungs-Prozess am 9. November 1976 im Kölner Landgericht wegen Vorlage einer falschen Steuerkarte vom Gerling-Konzern angezeigt wurde, nachdem er seine Beobachtungen in dem Buch
Ihr da oben – wir da unten veröffentlicht hatte.
Seine reichlichen Erfahrungen mit der deutschen Gerichtsbarkeit finden auch Eingang in seinem oben erwähnten Essay über das »Schloß« in der die Dame mit den verbundenen Augen« residiert:
»Da findet so manche rasche Verwandlung statt, die sichtbaren Türhüter sind freundlich, die unsichtbaren Türhüter, ich nehme an, sie lächeln, nicht verächtlich, eher traurig, wohl weil sie ahnen, daß hier auf ewig Mißverständnis herrscht: Mißverständnis über die verschiedenen Arten der Wörtlichkeit, die permanent hier aufeinanderprallen, die Wörtlichkeit der Eingeweihten und Einverstandenen mit der der anderen, die nicht begreifen können und wollen, daß geschriebenes, gesprochenes Recht eine andere Wörtlichkeit hat als ihr Streben, Gerechtigkeit zu erlangen. Da wird, was klar schien, unklar, geschriebenes, gesprochenes, ausgelegtes und gedeutetes Recht hat eine andere Dimension als jener Wunsch nach Gerechtigkeit, der eine andere Selbstverständlichkeit hat, als in diesem Labyrinth sichtbar wird.«
Heinrich Böll: Hülchrather Straße, Nr. 7
– © Markus Schäfer, 2023
Markus SchäferWissenschaftlicher Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin
Literatur- Siehe: Böll: Hülchrather Str., S. 79, S. 80.
- Verhandlung vor dem Kölner Landgericht gegen Günter Wallraff am 9.11.1976. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 10.11.1976, S. 10 u.d.T.: Verbotenes ohne Strafe. Heinrich Böll sprach vor dem Landgericht als Sachverständiger.