Ein Gastbeitrag von Martin Oehlen »Ich habe in Köln wirklich an jeder Ecke Erinnerungen«, sagt Nava Ebrahimi im Gespräch. Sie habe »fast überall« in der Stadt gelebt. Ihre Aufzählung der Wohnadressen ist tatsächlich eindrucksvoll: in Chorweiler »in einem der Hochhäuser«, in Junkersdorf am Wiener Weg und im Univiertel »direkt an den Bahngleisen«. Als Nava Ebrahimi […]
Nava Ebrahimi – Wiener Weg 20Ein Gastbeitrag von Martin Oehlen
Hochhaus-Siedlung, Wiener Weg, Köln-Junkersdorf, 2022 © Foto: Martin Oehlen
»Ich habe in Köln wirklich an jeder Ecke Erinnerungen«, sagt Nava
Ebrahimi im Gespräch. Sie habe »fast überall« in der Stadt gelebt. Ihre Aufzählung der Wohnadressen ist tatsächlich eindrucksvoll: in Chorweiler »in einem der Hochhäuser«, in Junkersdorf am Wiener Weg und im Univiertel »direkt an den Bahngleisen«. Als Nava Ebrahimi »zehn oder elf Jahre« alt ist, zieht die Familie in den Westerwald, was sie als »Katastrophe« bezeichnet. Nach dem Abitur in Bad Ems geht es zurück nach Köln, wo sie die Journalistenschule im Mediapark besucht, die ein paralleles Studium der Volkswirtschaftslehre vorschreibt: »Ich selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, VWL zu studieren.« Das Studium führt zu neuen Wohnungen. Erst einmal für einen Monat ins Herkules-Hochhaus an der Inneren Kanalstraße, dann in die Eintrachtstraße am Eigelstein, in die Mechternstraße beim Neptunbad, in die Vasterstraße in Neu-Ehrenfeld (»Haltestelle Iltisstraße«), in die Pfälzer Straße am Barbarossaplatz und in die Achterstraße im Severinsviertel. »Vor Chorweiler gab es vermutlich auch noch zwei, drei Adressen – aber da war ich zu klein, um mich daran erinnern zu können. Ach so, in der Moltkestraße habe ich auch einmal gewohnt.«
Die Schriftstellerin, die seit 2012 in Graz in Österreich lebt, wurde 1978 in Teheran im Iran geboren und kam im Alter von drei Jahren nach Köln. Ihr erster Roman
Sechzehn Wörter (2017), ausgezeichnet mit dem Debütpreis zum Österreichischen Buchpreis und im Jahre 2022 das »Buch für die Stadt« in Köln und der Region, schildert das Leben in zwei Kulturen. Auch der nachfolgende Roman
Das Paradies meines Nachbarn (2020) verbindet eine Vergangenheit im Iran mit der Gegenwart in Deutschland. Für ihre Kurzgeschichte
Der Cousin wird sie 2021 mit dem Bachmannpreis in Klagenfurt geehrt.
Hochhaus-Siedlung, Wiener Weg, Köln-Junkersdorf, 2022 © Foto: Martin Oehlen
Nava Ebrahimi beim Kölner Karneval © Foto: Nava Ebrahimi
Besonders wichtig, sagt Nava Ebrahimi, sei für sie die Kölner Wohnung am Wiener Weg 20 in Junkersdorf gewesen, weil sie damals eingeschult worden sei. »Das war eine prägende Zeit.« Warum sie die katholische Ildefons-Herwegen-Grundschule besucht habe, obwohl in demselben Gebäude auch eine staatliche Grundschule gewesen sei, habe sie bis heute nicht ganz klären können. »Das war eigentlich total schräg, weil ich die einzige Muslimin in der Klasse war«, sagt sie. »Ich hatte einen gewissen Sonderstatus, aber ich war da gerne.« Sie habe auch den Religionsunterricht mitgemacht und jeden Freitag den Schulgottesdienst in der Kirche besucht. »Ich war die einzige Schülerin, die nicht zur Kommunion gegangen ist. Aber ich habe immer aus voller Kehle die Lieder mitgesungen. Ich habe mich nie ausgegrenzt gefühlt. Vielleicht romantisiere ich das auch etwas durch die Erfahrungen im Westerwald. Aber ich habe mich in der Grundschule schon sehr wohl gefühlt. Ich habe Karneval mitgefeiert – und das war schon das Wichtigste für die Integration.« Wenn es überhaupt eine Spannung in der Klasse gegeben haben sollte, dann sei diese auf die sozialen Unterschiede zurückzuführen gewesen – die eine Hälfte kam »aus der Hochhaus-Siedlung am Wiener Weg und die andere aus den schönen alten Häusern rund um die Frankenstraße.«
Mit der Literatur sei sie erst spät in Kontakt gekommen, erzählt Nava Ebrahimi. Bücher hätten nach der Emigration aus dem Iran kaum noch eine Rolle in der bildungsnahen Familie gespielt. Zum einen hätten die Eltern »wirklich viel gearbeitet«, zum anderen sei es damals in Deutschland schwierig gewesen, an iranische Literatur zu gelangen. Dann habe sie im Alter von 12 Jahren von einer Cousine einen Band mit Erzählungen von Heinrich Böll geschenkt bekommen. »Eigentlich hatte ich vorher nur wenige Bücher gehabt – und dann gleich so etwas.« Auf diese Weise sei Heinrich Böll zu einer ihrer frühesten Leseerfahrungen geworden. In dem Band sei ihr die Erzählung
An der Brücke (1950) besonders nahegegangen. Diese wird auch in ihrem Roman
Sechzehn Wörter hervorgehoben. Der aus Persien stammende Dichter SAID, der 2021 in München gestorben ist, habe einmal in einem Interview gesagt, dass dies für ihn eine »persische« Geschichte sei – »und das habe ich auch so empfunden.« Persisch wirke der Böll-Text, weil er voller Andeutungen sei, vieles in der Schwebe lasse und sehr sehnsuchtsvoll angelegt sei.
Erste literarische Versuche unternahm Nava Ebrahimi mit 15, 16 Jahren. »Das waren noch Zwischenformen aus Brief und Tagebuch mit prosaischem Einschlag.« Mit 20 Jahren habe sie begonnen, Texte zu Wettbewerben einzuschicken. Das habe auch oft geklappt. Ansätze zum Debütroman
Sechzehn Wörter gab es schon recht früh. Doch dabei blieb es zunächst. Ihre Erfahrung ist: »40 Seiten schreibt man schnell mal runter. Aber wenn man an den Punkt kommt, an dem man sich wirklich Gedanken über die Form und die Struktur machen muss, wenn es also richtig Arbeit macht, lässt man es dann oft liegen – zumal dann, wenn man noch einen anderen Beruf hat.« Den hatte Nava Ebrahimi in Köln: Sie war unter anderem tätig als Journalistin für die Financial Times Deutschland und die Stadtrevue. Erst nach dem Umzug nach Graz im Jahre 2012 fand sie die Zeit zum Schreiben, weil sie in Österreich anfangs »niemanden kannte, keinen Job hatte und mit dem Baby zuhause saß.«
Ein Anlass, sich auf
Sechzehn Wörter einzulassen, sei ihre iranische Großmutter gewesen: »Sie ist eine wichtige Frau in meinem Leben und ein ganz, ganz ambivalenter Mensch.« Mit der Niederschrift des Romans habe sie versucht, diese Person zu fassen zu kriegen. Und dann wollte Nava Ebrahimi auch noch erzählen von einem Leben in und mit zwei Kulturen, der deutschen und der iranischen. »Ich bin immer relativ ›allein unter Weißen‹ gewesen, um den Buchtitel von Mohamed Amjahid zu zitieren. Ob auf der Grundschule in Junkersdorf oder in Bad Ems, wo ich Abitur gemacht habe, war ich meist die einzige Nicht-Weiße, die einzige Nicht-Deutsche beziehungsweise Nicht-Deutsch-Deutsche.« Ein Doppelleben in zwei Welten sei es gewesen, und sie habe nicht recht gewusst: »wohin damit.« Zwar gebe es im Literatur-Kanon Texte über ein solche existentielle Zerrissenheit, über die Erfahrung, »nicht zu wissen, wo man hingehört.« Damit habe sie sich ein Stück weit identifizieren können. »Aber die speziellen Konflikte und Widersprüche, die ich aushalten musste, habe ich nirgends repräsentiert gefunden.« So sei das Schreiben auch ein Versuch gewesen, sich mitzuteilen und zu finden. Nava Ebrahimi hat eine Weile in Hamburg gelebt. Das war noch vor dem Umzug nach Graz:
»Ich fand Hamburg toll, habe das wirklich geliebt und das ist für mich die schönste und liebenswerteste Stadt in Deutschland. Ich bin dann aber immer wieder zu Prüfungen an die Uni nach Köln gefahren – und wenn ich dann den Dom gesehen habe, ist mir das Herz aufgegangen. Obwohl ich mich so wohl in Hamburg gefühlt habe, bin ich dann doch nach Köln zurückgezogen. Es hat eben etwas gefehlt. Da habe ich gemerkt, dass ich für Köln mehr Gefühle habe als für einen anderen Ort.«
Nava Ebrahimi
Das liege daran, wiederholt Nava Ebrahimi, »dass ich in Köln an jeder Ecke Erinnerungen habe.« Spontan fällt ihr die markante Neonreklame
Er trinkt, sie trinkt! am Rudolfplatz ein, die sie als Kind, in der Straßenbahn-Linie 1 sitzend, beeindruckt habe. Nava Ebrahimi fasst zusammen: »Kein Ort kommt für mich näher an ›Heimat‹ heran als Köln.«
– © Martin Oehlen, 2022
Martin Oehlen
geb. 1955 in Kaldenkirchen, kam 1980 nach seinem Studium zum
Kölner Stadt-Anzeiger. 1989 wurde er stellvertretender Leiter der Kulturredaktion; gemeinsam mit Reiner Hartmann übernahm Oehlen 1994 die Leitung des Ressorts Kultur; ab 2001 war er alleiniger Ressortleiter. Besonders verdienstvoll war sein Engagement für die Aktionen »Kultursonntag«, »Ein Buch für die Stadt« und für das monatliche »Büchermagazin« des
Kölner Stadt-Anzeiger. Als Autor und Rezensent arbeitet er auch nach seiner Pensionierung (2019) für den
Kölner Stadt-Anzeiger; gemeinsam mit Petra Pluwatsch betreibt Oehlen den Literaturblog
Bücheratlas.