Die Realität in vielen linken Gruppen ist ernüchternd: Organisatorische Stagnation und ein hoher innerer Partizipationsaufwand. Dieses System verschleißt motivierte Aktivist*innen bis zum Burnout und hält Barrieren aufrecht, die eine breitere und diversere Beteiligung verhindern. Sowohl die oft hohen Erwartungen der
aktivistischen Mission als auch der hohe innerpolitische partizipatorische Aufwand halten die Schwelle zur Beteiligung unnötig hoch. Hinzu kommt, dass wertvolle organisatorische Errungenschaften ständig neu erfunden werden müssen, da das kollektive Wissen nicht angemessen festgehalten und weitergegeben wird.
Diese organisatorischen Defizite verhindern die notwendige Ausweitung unserer kollektiven Selbstbestimmung. Deshalb müssen wir digitale Infrastruktur als das begreifen, was sie ist: die kritische Grundlage für eine bessere Organisierung.
Der Appell ist klar: Wir müssen digitale Werkzeuge nutzen.
Loomio und
Decidim sind erprobte, freie, open-source Plattformen zwecks demokratischer Entscheidungsfindung. Loomio erinnert and Foren und Teamkommunikationsapps wie Slack, jedoch mit eingebauten Funktionalitäten zur demokratischen Entscheidungsfindung und deren Dokumentation. Decidim ist hingegen vielseitiger, modularer und eher auf das einbeziehen sonst Unbeteiligter ausgerichtet. Der Fokus liegt also tendenziell darauf, Ideen aus einer breiten Basis zu fertigen Anträgen auszuarbeiten, bevor diese diskutiert und letztlich verabschiedet werden. Diese Plattformen sind die Schlüssel zur Überwindung jener informellen Hierarchien, zu denen hochschwellige, aktivistische Gruppen tendieren. Die unmittelbaren praktischen Vorteile dieser Plattformen für unsere Basisarbeit sind folgende:
- Niedrigschwelligkeit: Sie ermöglichen eine gemeinsame Entscheidungsfindung, die Barrieren wie Arbeit, Sorgepflichten oder Distanz überwindet. Statt sich abends auf ein mehrstündiges Plenum zu schleppen oder für ein Wochenende auf einen Kongress in Berlin zu fahren, reicht es, wenn man hier und da mal 20 Minuten auf der Plattform aktiv wird – im Bus, in der Mittagspause oder wenn man Glück hat sogar während der Arbeit.
- Transparenz: Diese Plattformen schaffen ein unverzichtbares Maß an Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Da alle Diskussionen, Argumente und finalen Beschlüsse offen dokumentiert werden, wird die Entscheidungsfindung überprüfbar und selbst für seither beigetretene Mitglieder nachvollziehbar.
- Skalierbarkeit: Diese Systeme sind skalierbar. Sie dienen der kleinen, lokalen Gruppe ebenso wie Tausenden von Beteiligten – vom Hausprojekt bis zur partizipativen Haushaltsplanung einer Großstadt. Sie übersetzen die Prinzipien von Selbstverwaltung und Solidarität direkt in eine funktionierende digitale Infrastruktur.
Die Technopolitische Dimension
Neben den unmittelbaren, praktischen Vorteilen besitzen diese Apps auch eine technopolitische Dimension: Sie sind die Infrastruktur eines basisdemokratischen Machtaufbaus.
Um ihr Potenzial zu verstehen, blicken wir zurück auf den
Printkapitalismus: Der Soziologe Benedict Anderson beschrieb in seiner Analyse der Nationalstaatsbildung, wie die Druckerpresse im 18. Jahrhundert zum Katalysator für eine tiefgreifende Verschiebung wurde. Indem sie die Voraussetzung für eine
bürgerliche Öffentlichkeit schuf und es Menschen ermöglichte, sich über gedruckte Medien als Teil einer Nation zu identifizieren, ebnete sie den Weg für den Aufbau der bürgerlichen Subjektivität und Macht. Diese Massenkommunikation über große Distanzen hinweg schuf die strukturelle Basis für eine Welle bürgerlich-nationalistischer Revolutionen. Die Technologie allein bestimmte nicht die Gesellschaft, aber sie schuf die
Voraussetzung für diese neuen Machtkonstellationen.
Heute stehen wir vor der ähnlichen aber linksgerichteten Möglichkeit: Wir können diese Technologien verbreiten, um den Aufbau sozialistischer Gegenmacht zu fördern. Dies ist der Ansatz des
linken Akzelerationismus:
Während die Argumente der Techno-Utopisten darauf beruhen, dass Beschleunigung zur automatischen Überwindung politischer Konflikte führt, behaupten wir, dass die Technologie genau darum beschleunigt werden muss, weil sie dazu gebraucht wird, soziale Konflikte für sich zu entscheiden.
Es geht dabei nicht im "Technologie" im abstrakten, sondern um konkrete Technologien mit ersichtlichem Potential. Loomio und Decidim sind genau das: Sie ermöglichen strukturiertere, niedrigschwellige und breitere demokratische Partizipation und fördern somit den Aufbau einer sozialistischen Gegenmacht.
Es ist höchste Zeit, die aktive Einbindung dieser Plattformen in der linksradikalen Bewegung zur neuen Norm zu machen, auf dass sie sich darüber hinaus in der Gesellschaft verankern. Das Wichtigste ist der Aufbau kollektiver Kompetenz: Wir müssen lernen, diese freien, digitalen Infrastrukturen nicht nur zu nutzen, sondern sie auch kritisch zu bewerten, zu warten und aktiv mitzugestalten. Jede Organisation sollte eine Umstellung auf diese Plattformen in Betracht ziehen.
Der Pfad zur digitalen Demokratisierung ist einer des
Experimentierens, Dokumentierens und Verbreitens. Teilt eure Erfolge, teilt eure Fehler und sorgt dafür, dass sich die Infrastruktur der Solidarität wie ein Lauffeuer verbreitet!