SERIE - «Weisst du, dass sie auch im nahen Supermarkt Stellungsbefehle verteilen?», fragt mich der Computertechniker. «An deiner Stelle wäre ich vorsichtig» «Weisst du, dass sie auch im nahen Supermarkt Stellungsbefehle verteilen?», fragt mich der Computertechniker. «An deiner Stelle wäre ich vorsichtig»
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Improvisierte Schulstunde auf der Treppe einer Metrostation in Kiew, Mai 2023.
Viacheslav Ratynskyi / Reuters
9. April 2023
Der Computertechniker hat eine Glatze und ist vierundfünfzig Jahre alt, aber er schreitet mit dem sicheren, athletischen Gang eines jungen Mannes einher.
«Ich sehe nicht so aus, als wäre ich jemand, der vom Alter her infrage käme. Mein Gang verrät mich», sagt er bedauernd. «Das liegt daran, dass ich früher Sport getrieben habe. Aber wenn sie dich vorladen, ist ihnen dein Alter schnuppe. Sie können dich auch schnappen, wenn du ein paar Monate jünger als sechzig bist.»
Ich frage ihn, warum er glaube, dass sie das tun würden.
«Es ist ihnen egal, wen sie schnappen, weil sie den Plan erfüllen müssen. Wenn sie ihn nicht erfüllen, werden sie selbst an die Front geschickt, und zwar alle. Deshalb nehmen sie jeden, sogar Alkoholiker. In einigen Regionen ist bereits sämtliches Personal, das in den Melde- und Einberufungsbüros gearbeitet hat, an die Front geschickt worden, weil der Mobilisierungsplan nicht erfüllt wurde.»
Was er sagt, ist glasklare Putin-Propaganda. Wenn er daran glaubt, bedeutet das, dass er russisches Fernsehen schaut. Ich widerspreche ihm nicht. Jemandem, der russisches Fernsehen schaut, etwas zu erklären, ist so, als würde man einer ägyptischen Mumie eine Liebesballade vorsingen: Sie ist schon vor langer Zeit versteinert und vermag entsprechende Bemühungen nicht zu würdigen. Ganz zu schweigen davon, dass einst das Gehirn durch die Nasenlöcher entnommen wurde.
Der Mann braucht mehr als drei Stunden, um meinen Computer zu reparieren, und die meiste Zeit spricht er über seine Tochter. Glaubt man dem, was er erzählt, ist sie bemerkenswert begabt. Sie ist erst fünfzehn, aber sie hat bereits Programmierwettbewerbe an Schulen und in Städten gewonnen und ausserdem den zweiten Platz im regionalen Wettbewerb und in der Qualifikationsrunde für den nationalen ukrainischen Wettbewerb belegt. Dieses Jahr fand die gesamtukrainische Programmier-Olympiade nicht statt, sonst hätte sie daran teilgenommen. Aber nächstes Jahr wird sie auf jeden Fall dabei sein.
Er sagt, dass den Lehrern die Kinnlade herunterfalle, wenn sie sähen, was seine Tochter für extrem schwierige Aufgaben lösen könne.
«Wer hilft dir?», fragen die Lehrer sie.
«Mein Vater», antwortet das Mädchen.
Dieser scheut keinen Aufwand für seine Tochter. Er arbeitet sieben Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag, und verdient trotzdem nicht viel. Trotzdem hat er es geschafft, seiner Tochter einen grossen Computermonitor zu kaufen, damit sie sich nicht die Augen verdirbt.
Er lässt sie jeden Tag Sport treiben, weil er weiss, dass das sitzende Leben, das sie als Programmiererin führen wird, ungesund ist. Das Essen, das das Mädchen zu sich nimmt, ist ihm jedoch egal: Sie isst hauptsächlich Pelmeni (simple Fleischklösse), weil Pelmeni in zehn Minuten gekocht werden können. Es ist ungesundes Essen, aber sie haben keine Zeit, etwas Gesünderes zu kochen. Er baut aus ihr eine verbesserte weibliche Version von sich selbst.
Während des Krieges sind sie nie in den Bunker gegangen, auch nicht, als alles um sie herum in die Luft zu fliegen begann: Zeit ist beiden wichtiger als Sicherheit. Aber sosehr sie sich auch bemühen, es fehlt die Zeit, um neue Programmiersprachen zu lernen.
Also sucht der Mann die Schule auf, spricht mit den Lehrern seiner Tochter und erklärt ihnen, dass es eine grosse Ehre für die Schule wäre, wenn das Mädchen an der gesamtukrainischen Olympiade teilnehmen würde. Die Lehrer sind damit einverstanden.
Als er sie bittet, seine Tochter vom Unterricht in bestimmten Fächern zu befreien, damit das Mädchen Zeit hat, Programmiersprachen zu lernen, zucken sie nur leicht mit den Schultern, was bedeutet, dass sie so etwas nicht tun können.
Also wendet er sich an das Büro des Schulleiters.
«Von welchen Fächern wollen Sie Ihre Tochter denn genau befreien?», fragt der Rektor.
«Von Nutzlosem und Unnötigem.»
«Und welche Fächer haben wir Ihrer Meinung nach, die nutzlos und unnötig sind?», fragt der Schulleiter, zutiefst beleidigt über diese unverschämte Respektlosigkeit.
«Ukrainistik und Charkiwistik», antwortet der Vater mit Unschuldsmiene.
«Wissen Sie was», sagt der Schulleiter immer noch höflich, «wenn ich jemals auf die Idee käme, Ihre Tochter wirklich von diesen Fächern zu befreien, würde ich gefeuert werden.»
Manchmal gibt es also einen unüberwindbaren Widerspruch zwischen Patriotismus und Karriere. So sind die Dinge nun einmal, und der Mann hat Angst, dass sich dagegen nichts tun lässt.
Vor allem aber hat er Angst, dass er zur Armee eingezogen wird. Dann wird die glänzende Karriere seiner Tochter im Sande verlaufen, bevor sie überhaupt begonnen hat.
«Weisst du, dass sie auch im nahen Supermarkt Stellungsbefehle verteilen?», fragt er mich. «An deiner Stelle wäre ich vorsichtig.»
Zur Person
PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 203. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
