Putin, so ist zu vernehmen, heult im Kreml aus Selbstmitleid. Dagegen
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SERIE - Putin, so ist zu vernehmen, heult im Kreml aus Selbstmitleid. Dagegen weinen Menschen, über die er unvorstellbares Leid gebracht hat, seltsamerweise fast nie Putin, so ist zu vernehmen, heult im Kreml aus Selbstmitleid. Dagegen weinen Menschen, über die er unvorstellbares Leid gebracht hat, seltsamerweise fast nie
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Wladimir Putin an einer Videokonferenz im Kreml, 1. Juni 2023.
Gavriil Grigorov / AP
21. April 2023
Kürzlich gab es einen Nachrichtenbeitrag über Putin, der offenbar einen schweren Nervenzusammenbruch hatte. Angeblich hörten Putins Wachen seltsame Geräusche aus dem Zimmer des Kremlchefs. Putin antwortete nicht auf das Klopfen, so dass die Wachen die Ärzte rufen mussten, die dann gemeinsam die Tür öffneten. Putin sass auf dem Boden neben dem Sofa und weinte. Er trug ein durchnässtes weisses T-Shirt und eine einzelne schwarze Socke, und die Windel, in der er in letzter Zeit herumgelaufen war, war abgerissen. Nachdem man Putin ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt hatte, beruhigte er sich.
Manche sagen, dass Putin todkrank sei, und viele freuen sich darüber. Ich halte eine solche Schadenfreude für falsch, selbst wenn sie sich auf Putin bezieht. Menschen sollten nicht an schrecklichen Krankheiten sterben, auch wenn sie Feinde sind. Putin gehört vor Gericht, er soll das Urteil vernehmen und ins Gefängnis gehen.
Natürlich ist es unter dem Gesichtspunkt elementarer und primitiver Rache falsch, dass jemand, der den Tod von Hunderttausenden von Menschen zu verantworten hat, den Rest seines Leben in einer relativ bequemen Gefängniszelle verbringt. Aber in diesem Fall scheint mir die Unvermeidlichkeit der Strafe wichtiger als ihre Härte oder Grausamkeit. Sie ist das Einzige, was die nächsten möglichen Diktatoren dazu bringen wird, zweimal nachzudenken, bevor sie Putin auf seinem Weg folgen. Der Tod durch eine Krankheit ist keine Strafe, und er wird nicht als Abschreckung für potenzielle künftige Putins dienen.
Wenn Putin im Kreml tatsächlich auf dem Boden sass und schluchzte, dann gewiss nicht aus Reue über das Schicksal der Hekatomben, die ums Leben kamen, und der Hunderttausende, die er noch töten wird. Er weinte aus Selbstmitleid. Später hat er dann auch in seiner Gefängniszelle dafür Zeit.
Es ist merkwürdig, aber Menschen, die wegen Putin unvorstellbare Schrecken zu erleiden hatten, weinen fast nie. Ich war immer wieder überrascht darüber, wie sehr sie mit ernster, aber distanzierter Gelassenheit über das sprechen, was ihnen widerfahren war, so als würden sie ein langweiliges Buch nacherzählen.
Sogar die fünfjährige Polina, die wie durch ein Wunder mit dem Leben davonkam, als die Russen in der Nähe von Kupjansk das Feuer auf eine Autokolonne eröffneten, redet auf diese Weise.
«Vermisst du deine Mutter?», fragt ihre Oma Polina.
Polinas Mutter ist umgekommen, indem sie das kleine Mädchen mit ihrem Körper beschützte.
«Ja», antwortet Polina nach kurzem Nachdenken mit einer Gelassenheit, als ginge sie das gar nichts an. Und doch kann man in ihren Augen sehen, dass sie die Wahrheit sagt. Ihre Mutter fehlt ihr sehr.
Polinas Bruder Mischa hat ebenfalls überlebt. Er ist jetzt eineinhalb Jahre alt.
Nach der Befreiung von Kupjansk begannen die Invasoren, die Stadt gnadenlos zu bombardieren. Acht Tage lang versteckten sich die Kinder mit den Eltern in einem Keller. Eines der ersten Wörter, die Mischa zu sagen lernte, war «Bumm!», weil er ständig Explosionen hörte. Dann bot ein gewisser Dima an, die Familie zusammen mit anderen Personen in ein sicheres Gebiet zu bringen. Für jede Person wollte Dima 6000 Hrywna. Die Kolonne bestand aus sechs Autos. Darunter befand sich ein Gazelle-Transporter mit der grossen Aufschrift: «Kinder».
In den Nachrichten war zu lesen, dass die Gazelle Feuer fing, als die Russen zu schiessen begannen, und offenbar war das Letzte, was die Eltern von Mischa und Polina tun konnten, die Kinder aus dem Wageninnern hinauszubugsieren. Später wurden sowohl das Baby als auch die fünfjährige Polina von hilfsbereiten Menschen abgeholt.
Aber das ist nicht ganz richtig.
Tatsächlich handelte es sich bei den «hilfsbereiten Menschen» um einen einzigen Mann, Andrei, einen Bewohner vom Nachbardorf. Als er gegen zehn Uhr morgens vom Markt nach Hause kam, sah er die mit Granaten beschossenen Autos, die noch rauchten. Nur die Gazelle mit der Aufschrift «Kinder» brannte noch nicht. Jemand würde sie später abfackeln. Ringsum herrschte Totenstille. Andrei hörte keine Stimmen.
Er schaute hinein und erblickte kleine Kinder, die über das Fleisch toter Menschen krochen, denn da lagen Dutzende von Leichen, verstümmelt und in Stücke gerissen.
Andrei spricht darüber mit ruhiger Stimme, ohne Tränen und ohne übertriebene Gesten. An diesem Tag rettete er nicht nur Mischa und Polina, sondern auch zwei schwerverletzte Erwachsene und ein zwölfjähriges Mädchen mit einem gebrochenen Arm. Er grub zudem ein weiteres Mädchen mit einem Hund unter einem Haufen von Leichen aus, aber es war bereits tot.
Polinas Grossmutter geht mit ihrer Enkelin an dem Gebäude in Kupjansk vorbei, wo die ganze Familie früher wohnte, im zweiten Stock: Polina, ihr kleiner Bruder Mischa, ihre Mutter Wika und ihr Vater Wjatscheslaw. Nur die kleinen Kinder haben überlebt. Die Grossmutter sagt, dass sie sich immer noch nicht traue, die Wohnung zu betreten.
«Wegen der vielen Fotos?», vermutet ein Journalist.
«Nein, sie haben alle Fotos entfernt», sagt die alte Frau mit kalter, emotionsloser Stimme. Es gibt noch etwas Unheimlicheres als Fotos in diesen leeren Räumen, das sie daran hindert, sie wieder zu betreten.
Im Gegensatz zu Putin, der schluchzend auf dem Boden neben dem Sofa liegt, spricht sie über alles ruhig und nachdenklich, ohne Geschrei oder Geflenne und mit einer seltsam distanzierten Ruhe. Das ist echte Trauer, die keine Spezialeffekte braucht.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow: Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 215. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
