SERIE - Zweifellos versuchte jemand 2014, in der Ukraine einen Bürgerkrieg anzuzetteln, und dieser Jemand war nicht Präsident Janukowitsch Zweifellos versuchte jemand 2014, in der Ukraine einen Bürgerkrieg anzuzetteln, und dieser Jemand war nicht Präsident Janukowitsch
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Proeuropäische Freiheitsproteste auf dem Maidan, 19. Februar 2014.
Brendan Hoffman / Getty
28. April 2023
Manchmal versteckt sich der Teufel in chronologischen Details.
Nach Angaben der russischen Behörden wurde der Entschluss, die «Rückkehr der Krim» in die Wege zu leiten, am 23. Februar 2014 um 7 Uhr morgens gefasst, nachdem der amtierende ukrainische Präsident Janukowitsch abgesetzt worden war. Putin behauptet, Russland habe die Annexion der Krim nicht vorbereitet und diese Entscheidung dazu sei erst nach «dem Sturz des rechtmässigen Präsidenten der Ukraine Janukowitsch in Kiew» getroffen worden.
Hier sehen wir den ersten Widerspruch. Auf der Rückseite des Ordens «Für die Rückkehr der Krim» können wir die Umstände des Handstreichs lesen: 20. Februar bis 18. März 2014.
Aber am 20. Februar war Janukowitsch noch der rechtmässige Präsident der Ukraine.
Jetzt beginnt die russische Invasion in der Tat hässlich auszusehen: Russland beschloss damals einfach, die souveräne Ukraine anzugreifen, wo es überhaupt keinen «Putsch» gab, und deren Gebiet zu besetzen.
Vier Jahre später wurde der russische Aussenminister Lawrow nach den Datumsangaben auf der Medaille gefragt. Er antwortete, er habe die Medaille «Für die Rückgabe der Krim» niemals gesehen, und wenn, dann sei das ungenaue Datum auf der Rückseite nur ein technisches Versehen.
Eine Art Tippfehler.
Okay, tun wir einmal so, als ob wir Lawrow glaubten. Aber lassen Sie uns die Daten genau im Auge behalten.
Präsident Janukowitsch hat mehrere Jahre lang von der europäischen Integration gesprochen. Und schliesslich wurde das Datum festgelegt, an dem die Ukraine ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen würde: Vilnius, 28. November 2013. Millionen von Menschen hatten auf diesen Tag gewartet, der die Zukunft der Ukraine für immer hätte verändern sollen.
Doch zwei Wochen vor dem Gipfel in Vilnius trifft sich Janukowitsch mit Putin im russischen Sotschi und verhandelt mit ihm. Später wird klar, was sie untereinander vereinbart haben: Am 28. November trifft Janukowitsch in Vilnius ein, um das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, weigert sich aber plötzlich, es zu tun, was unbegründet und schlicht dumm erscheint. Niemand versteht, was hier vor sich geht. Der ukrainische Ministerpräsident erklärt, dass die Ukraine sich stattdessen Russland annähern und die europäische Integration vertagen werde. Das missfällt den Leuten sehr, und es kommt auf dem zentralen Platz in Kiew, dem Maidan, zu friedlichen Protesten.
Am 30. November, spätabends, betritt die ukrainische Spezialeinheit Berkut den Platz, auf dem sich die Demonstranten befinden, und beginnt, alle, einschliesslich der Studenten, brutal zu verprügeln. Die Prügeleien und Verhaftungen werden am nächsten Tag fortgesetzt.
In jenen Tagen sassen wir alle wie angeklebt vor dem Fernseher. Ich erinnere mich an ein schreckliches Bild: eine Strasse, die wehrlose Menschen entlanglaufen im Versuch, zu fliehen; Hunderte oder vielleicht Tausende von Angehörigen der Berkut-Bereitschaftspolizei dringen vor wie eine menschliche Lawine, stossen alle zu Boden und beginnen, die Liegenden heftig mit den Füssen zu treten.
Es war eine völlig sinnlose Grausamkeit. Niemand verstand, warum sie das taten. Jemand versuchte zweifellos, in der Ukraine einen Bürgerkrieg anzuzetteln, und dieser Jemand war nicht Präsident Janukowitsch. Die Proteste in der Ukraine liefen unter dem Namen Maidan, sie wurden unaufhaltsam.
Derweil organisiert das russische Verteidigungsministerium eine Ausschreibung für die «Lieferung von Medaillen in einer Geschenkbox mit Blanko-Zertifikaten». Die ersten Informationen über diese Ausschreibung sind am 17. Dezember 2013 zu finden. Am 30. Dezember erhält die Mosshtamp-Fabrik den Zuschlag für die Ausschreibung.
Fast zwei Monate vor dem angeblichen «Putsch» in der Ukraine wird die Medaille «Für die Rückkehr der Krim» mit dem Datum 20. Februar 2014 bestellt. Am 13. Januar beginnt die Produktion der Medaillen. Die Auftragsnummer lautet 12/EA/2014/DRGE. Die Produktionszeit beträgt 21 Tage. Was heisst, Anfang Februar sind die Medaillen «Für die Rückkehr der Krim» fertig, mit dem Datum, an dem die Operation beginnen wird: 20. Februar. Aber in Tat und Wahrheit findet der «Staatsstreich» in der Ukraine erst am 23. Februar statt.
Aber jetzt, wo die neuen Medaillen bereits bestellt sind, muss sich Russland beeilen, um den für den 20. Februar geplanten Staatsstreich in der Ukraine nicht zu verpassen. Zwei Spezialflugzeuge mit Blend- und Rauchgranaten fliegen von Moskau nach Kiew. In den Begleitpapieren steht: «Humanitäre Hilfe».
Am 19. Februar, einen Tag vor dem geplanten Putsch, beginnt Wiktor Janukowitsch, Wertgegenstände, Antiquitäten, Gemälde und Geld aus seiner Residenz zu entfernen. Lastwagen fahren vor und fahren weg, einer nach dem anderen. Janukowitschs Geliebte rennt auf dem Gelände herum und fängt ihren Pomeranian-Hund ein.
Der 20. Februar ist der Tag des Massakers. Auf dem Maidan agieren Scharfschützen. Sie schiessen den Menschen ins Herz, in den Kopf oder, wenn einer einen Helm trägt, in den Nacken. Mehr als sechzig Demonstranten werden an einem Tag getötet. Scharfschützen haben es auch auf die Polizei abgesehen. Doch der angekündigte Staatsstreich findet nicht statt.
Im Gegenteil: Am nächsten Tag, dem 21. Februar, wird ein Abkommen zur Beilegung der politischen Krise unterzeichnet, und zwar von Janukowitsch, Oppositionsführern sowie europäischen Diplomaten. Janukowitsch bleibt Präsident. Ein weiteres technisches Missverständnis: Der Staatsstreich wird abgeblasen.
Es scheint, dass sich die Dinge nun zum Guten wenden. Doch dann flieht Janukowitsch unerwartet aus dem Land, obwohl eine Flucht jetzt weder logisch noch sinnvoll ist. Und Putin greift unter dem Vorwand eines Staatsstreichs die Ukraine an und annektiert die Krim, wenn auch drei Tage später als geplant.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 222. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
