SERIE - «Solange sie uns töten, können wir alles über die Russen sagen», meint Lena, und da stimme ich voll und ganz mit ihr überein «Solange sie uns töten, können wir alles über die Russen sagen», meint Lena, und da stimme ich voll und ganz mit ihr überein
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Zerstörte Häuser in Wuhledar in der Region Donezk, 16. Juli 2023.
Oleg Petrasyuk / EPA
13. Mai
Auf den ersten Blick scheint der Konflikt einfach und eindeutig zu sein. Wiktor Schenderowitsch, ein russischer Schriftsteller, hat russische Soldaten als «unsere Jungs» bezeichnet und gesagt, dass er einige Ausbrüche von Nazismus in der Ukraine gesehen habe. Dafür wurde er im litauischen Vilnius während der Pause seines Auftritts im Vaidilos-Theater von einigen ukrainischen Patrioten mit Ketchup übergossen.
In Wirklichkeit lagen die Dinge ein wenig anders. Der russische Schriftsteller Schenderowitsch ist nicht ganz russisch, denn er verfügt nicht über die russische Staatsangehörigkeit und ist zudem israelischer Staatsbürger. Genaugenommen ist er ein israelischer Satiriker, der in russischer Sprache schreibt.
Hinzu kommt, dass die «ukrainischen» Patrioten, die den Schriftsteller mit Ketchup übergossen haben, überhaupt nichts mit der Ukraine zu tun haben. Ein grosser, dickbäuchiger Mann mit dem Ketchup, der ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift «Asow» trägt und sich eine ukrainische Flagge wie einen Mantel über die Schultern geworfen hat, ist ein Russe, ein Aktivist der Gruppe «Friedlicher Widerstand». Da er gross, böse und wütend ist, kann er es sich natürlich leisten, einen schüchternen älteren Schriftsteller anzugreifen, auch wenn der Begriff «friedlicher Widerstand» hier etwas seltsam klingt.
Schenderowitsch ist einer der grössten und ältesten Feinde Putins. Ich habe mich immer gefragt, warum er noch nicht mit Nowitschok oder radioaktivem Polonium vergiftet oder zumindest für zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis gesteckt wurde. Schenderowitsch hat Putin stets kritisiert, er war mit der Annexion der Krim nicht einverstanden, er war gegen die russische Invasion in der Ukraine und so weiter.
Die Russen, die ihn mit Ketchup übergossen, wollten den Schriftsteller nur dazu bringen, die Klappe zu halten und Putin nicht mehr in der Öffentlichkeit zu kritisieren. Wenn sie seine Auftritte weiterhin massiv stören, wird Schenderowitsch am Ende wirklich die Klappe halten, und Putin wird zufrieden sein. Der alte Mann aus dem Kreml hat momentan ein bisschen Glück sehr nötig.
Das Wichtigste aber ist, was genau Schenderowitsch gesagt hat und warum er die Ukraine des Nazismus beschuldigt hat.
Um es auf den Punkt zu bringen: Er sagte, dass die Ukraine bis zum Sieg unterstützt werden müsse und dann in Ruhe gelassen werden solle. Weiter meinte er, dass die Russen etwas mit den traumatisierten Landsleuten und sogar Mördern, die aus dem Krieg zurückkehrten, tun müssten. «Wir wünschen uns, dass es keinen Putin gibt, aber wir möchten, dass Russland weiter existiert», sagte er weiter.
Der in der Ukraine am weitesten verbreitete Standpunkt ist ein ganz anderer.
«Wir wünschen uns, dass es keinen Putin und auch kein Russland gibt, weil Russland für uns immer eine existenzielle Bedrohung war und in Zukunft weiterhin sein wird.»
«Wir nehmen ukrainische Ausbrüche von Nazismus sehr schmerzhaft und scharf wahr. So etwa, wenn ich höre, dass das russische Volk ein Volk von Sklaven oder von ‹Orks› sei, nur weil alle einen russischen Pass haben», sagte Schenderowitsch.
Hier liegt der Satiriker falsch.
Verallgemeinerungen und Schuldzuweisungen an eine ganze Gruppe von Menschen auf irgendeiner Grundlage (Staatsangehörigkeit, Nationalität, Rasse oder Religion) sind immer schlecht, aber kein Zeichen von Nazismus. Die Kommunisten etwa wollten die wohlhabende Bauernschaft und die Bourgeoisie als soziale Entitäten vernichten: Wer zu einer dieser Klassen gehörte, sollte ausgemerzt werden. Ein religiöser Fanatiker hasst möglicherweise alle, die an einen anderen Gott glauben. Die Mitglieder des Ku-Klux-Klan haben Schwarze gelyncht, und die radikalsten Feministinnen verachten oder hassen wohl alle Männer.
All das ist schlimm, aber all das ist kein Nazismus.
Als ein ukrainischer Sänger mit russischen Oppositionellen fotografiert wurde, weil sie gemeinsam Geld zur Unterstützung der Ukrainer sammelten, hörten sich die Kommentare der Ukrainer so an:
«Es gab keine guten Russen, und es wird nie welche geben! Merkt euch das für immer!»
«Allein die Tatsache ihrer Nationalität ist schon ein Grund, nichts mit ihnen gemeinsam haben zu wollen. Ich möchte nicht einmal die Luft zum Atmen mit ihnen teilen.»
«Es gibt keine ‹guten› Russen! Der Krieg ist im Gange, und es spielt keine Rolle, wie sie unser Blut von ihren Händen zu waschen beabsichtigen . . .»
Aber Aussagen wie diese sind keine Ausbrüche von Nazismus. Ich würde sie als reaktiven Rassismus bezeichnen, wenn die Menschen des Angreiferstaates allein aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft oder ihrer Nationalität gehasst werden. Das ist eine schlimme Sache, aber in Kriegszeiten nur natürlich.
«Solange sie uns töten, können wir alles über die Russen sagen», bemerkt Lena dazu, und da stimme ich voll und ganz mit ihr überein.
Leider gibt es Leute, die uns diese Ideologie für die Zukunft aufzwingen wollen, also auch für die Zeit, da die Russen aufgehört haben werden, uns umzubringen.
Das wird dann ein echter, proaktiver Rassismus sein. Auch dieser ist natürlich kein Nazismus, aber doch etwas sehr Ähnliches.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 237. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
