«Neue Raketen sind offenbar schon in der Luft!», ruft die Mutter. Dann
wendet sie sich an ihre To...
SERIE - «Neue Raketen sind offenbar schon in der Luft!», ruft die Mutter. Dann wendet sie sich an ihre Tochter: «Denk schneller, sie kommen!» «Neue Raketen sind offenbar schon in der Luft!», ruft die Mutter. Dann wendet sie sich an ihre Tochter: «Denk schneller, sie kommen!»
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Mikola und seine Familie fahren in das Dorf Dowhenke in der Region Charkiw, um die Reste eines Bienenstocks zu holen, der während der Kämpfe beschädigt wurde. 15. Juli 2023.
Oleg Petrasyuk / EPA
18. Mai
Vor einigen Tagen fanden Pioniere 250 Panzerabwehrminen, die unter der Stromleitung zwischen den Dörfern Grakowo und Mospanowo unweit von Charkiw verlegt worden waren. 250 Minen unter Stromleitungen auf einer Strecke von nur 300 Metern sind ein neuer Rekord für die Ukraine, obwohl ich bezweifle, dass es ein Weltrekord ist.
Heute gibt Lena einer Zweitklässlerin namens Darina eine Englischstunde. Es ist Fernunterricht, und da das Mädchen noch recht klein ist, sitzt es nicht allein, sondern mit seiner Mutter am Bildschirm. Plötzlich ertönt aus dem Computer das Geräusch einer Explosion.
«Da ist gerade etwas explodiert!», sagt die Mutter des Mädchens. «Hast du es gehört?»
«Seltsam, aber hier ist alles ruhig», antwortet Lena – und ein paar Sekunden später dröhnt der dumpfe Knall einer Explosion vor unserem Fenster.
Der Unterricht geht weiter, aber im nächsten Moment passiert das Gleiche noch einmal. Der Lautstärke der Explosion nach zu urteilen, detonierte die zweite Rakete an derselben Stelle wie die erste.
«Hier ist schon wieder etwas explodiert», sagt die Mutter. «Habt ihr es gehört?»
«Nein, alles ist ruhig», antwortet Lena erneut, und schon hat sie die Englischstunde fortgesetzt, als draussen die Explosion einer weiteren Rakete ertönt, was deutlich belegt, dass die Schallgeschwindigkeit nicht besonders gross ist im Vergleich zur Geschwindigkeit eines elektrischen Signals, welche zwei Drittel der Lichtgeschwindigkeit beträgt.
Lena stellt Darina einige Fragen, und das Mädchen beginnt nachzudenken. Derweil sieht sich ihre Mutter die Nachrichten auf ihrem Smartphone an.
«Neue Raketen sind offenbar schon in der Luft!», ruft die Mutter. Dann wendet sie sich an ihre Tochter: «Denk schneller, sie kommen!»
Ja, das Mädchen muss jetzt schnell denken. Eine von Belgorod aus gestartete Rakete wird Charkiw in ein oder zwei Minuten erreichen.
«Versteckt ihr euch oder nicht?», fragt Lena sie.
«Wo können wir uns denn verstecken?», antwortet die Mutter des Mädchens mit einer Gegenfrage. «Im Kleiderschrank oder unter dem Bett?»
Da hört die Zweitklässlerin auf, über die ihr gestellte Frage nachzudenken, und sagt, dass die Idee, unter das Bett zu kriechen, nicht funktionieren werde. Ihr Bett ist nämlich so gebaut, dass niemand darunterpasst.
Zwei andere Mädchen, Fünftklässlerinnen, gehen auch gerade zu Lena in den Englischunterricht. Wie sie uns später erzählen werden, waren sie während der Explosionen direkt auf der Strasse, und sie wussten nicht, was sie tun und wohin sie rennen sollten, vorwärts oder rückwärts. Vielleicht wäre es das Beste, in kurzen Sprüngen Deckung zu suchen zwischen den Häusern, wie in Kriegsfilmen.
Heute ist in der Ukraine der Wischiwanka-Tag. Die Wischiwanka, ein besticktes Hemd, ist ein ukrainisches Nationalkleidungsstück, und, wie man uns kürzlich weismachte, es enthält «die verschlüsselte DNA der Nation» oder so ähnlich.
Ich weiss nicht, ob das stimmt oder nicht, aber dieser Feiertag lässt die meisten Menschen in Charkiw gleichgültig. Für die Mehrzahl von ihnen sind die Menschen nicht in Nationen unterteilt, sondern in Gut und Böse. Ich weiss nicht, vielleicht habe ich meine nationale Identität noch nicht gut genug entwickelt, aber ich stimme dem zu. Heute, während Russland Raketen auf Charkiw abschiesst, tanzen und singen kleine Kinder in adretten weissen bestickten Wischiwanka-Hemden auf dem Gehweg vor unserem Haus. Egal, ob Charkiw attackiert wird oder nicht, die Show muss weitergehen.
Musik erklingt, und die Kleinen tanzen und singen auf Ukrainisch. All das sieht nett und angenehm aus, aber es fehlt an ungekünstelter Begeisterung. Dann hört die Musik auf. Die Vorstellung ist zu Ende. Die Kinder gehen nach Hause, lachen und rufen sich gegenseitig auf Russisch zu. Es scheint, dass nicht nur ich noch keine echte nationale Identität aufgebaut habe.
Ein paar Stunden später erfahren wir aus den Nachrichten, dass die Raketen nicht Charkiws Innenstadt, sondern den Charkiwer Vorort Zirkuni getroffen haben. Dort wurde ein 52-jähriger Mann getötet beim Versuch, das Dach seines Hauses zu reparieren, das durch einen Angriff zwölf Stunden zuvor beschädigt worden war.
Es ist unmöglich, die Logik der Russen zu begreifen, die ihre Raketen mit der Hartnäckigkeit von Verrückten auf ein und denselben Ort richten, obwohl klar ist, dass sich dort nichts anderes befindet als ein kleines Privathaus, das bereits beschädigt wurde.
Im Laufe dieser Woche haben russische Raketen in der Region Charkiw zwölf Menschen umgebracht, allesamt Zivilisten. Vielleicht ist das der Grund, warum der heutige Feiertag nicht sehr fröhlich war.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 242. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
