SERIE - Die umfassende Planung von Putins Untaten gleicht der Ausdehnung eines BandwurmsSergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Der Zögling Putin und sein Mentor Jelzin bei der Moskauer Siegesparade im Jahr 2000.
Ullstein
11. Juni.
Die Geschichte des demokratischen Russland endete am 9. August 1999 um 12 Uhr 44, als sich Präsident Boris Jelzin im Fernsehen an die russische Öffentlichkeit wandte. Er sprach langsam und schwer – so, als ob jedes Wort aus Blei wäre – und kündigte an, dass Wladimir (Pause) Wladimirowitsch (Pause) Putin Ministerpräsident Russlands werden würde. Er forderte die Menschen auf, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen für ihn zu stimmen.
Die wichtigsten russischen Fernsehsender nannten Putin «Jelzins Nachfolger». Niemand hatte damals jemals von Putin gehört, und Jelzins Worte klangen wie Unsinn. Zwei Tage später gab es eine Sonnenfinsternis, aber aus irgendeinem Grund hielt das niemand für eine Warnung der Götter.
Eines der allerersten Märchen, das ein Kind in Russland zu hören bekommt, ist die Geschichte vom Fischer und vom Fisch.
Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die am Meer lebten. Die alte Frau hatte nichts weiter als einen zerbrochenen Trog (Tröge wurden damals aus Holz hergestellt). Eines Tages fing der alte Mann einen Zauberfisch, der sich bereit erklärte, ihm alles zu verschaffen, was er nur wollte.
Der alte Mann wollte nichts für sich selbst, also bemühte er seine Frau. Die Frau bat den Fisch zuerst um einen neuen Trog, dann um ein neues Haus, aber das war noch nicht alles. Sie wollte eine Adelige werden, dann eine Königin und schliesslich die Herrin über das ganze Meer und auch noch über den Zauberfisch. Das ging natürlich ungut für sie aus.
Die Figur dieser masslos gierigen alten Frau ist einer der mächtigsten russischen Archetypen, aber es scheint, dass Putin dieses Märchen in seiner Kindheit nie gehört hat. Nachdem er Präsident geworden war und sich an seine neue Position gewöhnt hatte, beschloss er, dass ihm alles erlaubt war, und begann, sich genau wie die alte Frau zu verhalten.
Im gleichen Jahr 1999 übergab die Ukraine ihre atomare Bewaffnung, in Form von Raketen und Bombern, an Russland. Das war ungefähr so, als würde man sein einziges Messer einem Wahnsinnigen geben, der einen abstechen und das Blut trinken will. Damals, 1999, wurde die Saat des heutigen Krieges gepflanzt. Und die Saat ging Jahre später auf.
2003 wurde in Bachmut, genau in dem Bachmut, in dem jetzt gekämpft wird, ein riesiges Granatenarsenal gesprengt. Man sagte uns, dass einige Soldaten, die sich unvorsichtig verhalten hätten, daran schuld seien. Doch in den Jahren 2004, 2005, 2006 und 2007 brach in ukrainischen Munitionsdepots in Nowobogdaniwka regelmässig Feuer aus. Dabei explodierten 2004 auf einen Schlag 90 000 Tonnen Raketen der Typen MLRS Grad, Smerch und Uragan.
Eine Wolke aus graubraunem Rauch und Feuer steigt über der Steppe hoch, dazwischen leuchten von den Raketen einzelne Funken auf. Aus der Ferne scheinen sie langsam zu fliegen. Zunächst schiessen sie nach oben, silbrig weiss vor dem Hintergrund des Rauchs. Dann aber verlassen sie die Wolke und fallen zu Boden, wobei sie geometrisch präzise Parabeln beschreiben.
Das Geräusch ähnelt dem Tosen eines kräftigen Regengusses. Einzelne Blitze zünden im Inneren der Wolke und lassen sie von innen aufscheinen.
«Sind deine Fenster auch kaputt?», fragt ein Gaffer einen anderen.
Immer wieder wachsen feurige Pilze nach, die nach oben steigen, allmählich schwächer werden, ihr inneres Glühen verlieren und sich in einen ungleichmässig heissen Schwamm aus braunem Rauch verwandeln. In den Höfen liegen tote Hühner herum. Herunterfallende Raketenteile bohren vierzig Kilometer vom Epizentrum der Explosion entfernt Krater in den Boden.
Die Explosionen gehen auch in der Nacht weiter, aber jetzt sehen wir nur noch den unteren Teil der Wolke, der von Blitzen am Boden beleuchtet wird. In der Stadt schläft niemand mehr. In allen Häusern sind die Fenster beleuchtet.
«Oh, das war echt cool», sagt ein Gaffer zum anderen nach einer besonders starken Detonation.
In der Stadt sterben Asthmatiker, Herz- und Allergiepatienten auf der Strasse. Kinder werden durch das Einatmen von Rauch krank.
Damals sagte man uns, dass die Munition aus Gründen der Hitze explodiere. Wir waren so naiv, das zu glauben.
Doch im Jahr 2008 explodierten in der Stadt Losowa in der Region Charkiw erneut 95 000 Tonnen Munition.
Später wurden Munitionsdepots in Swatowo, Balaklija, Kalinowka und in Tschetschenien in die Luft gesprengt. Damals hatten wir bereits verstanden, dass es sich um terroristische Anschläge handelte. Die Munitionsdepots explodierten immer wieder, bis es in der Ukraine praktisch keine Munition mehr gab. Erst dann wagte Putin eine grossangelegte Invasion.
Die umfassende Planung von Putins Untaten gleicht der Ausdehnung eines Bandwurms. Die gleichen, weit vorausschauenden Pläne hegt er auch jetzt. Er hat mit dem Bau einer Fabrik zur Herstellung von Drohnen begonnen, was bedeutet, dass er keineswegs vorhat, aufzugeben oder in den nächsten Jahren zu sterben. Übrigens können manche Bandwürmer bis zu 18 Meter lang werden.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow: Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 261. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
