SERIE - Natürlich wird es eine radioaktive Verseuchung geben – aber sie wird nur in den ersten zwei Stunden tödlich sein. Habt also keine Angst, fürchtet euch nicht Natürlich wird es eine radioaktive Verseuchung geben – aber sie wird nur in den ersten zwei Stunden tödlich sein. Habt also keine Angst, fürchtet euch nicht
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Auch im Nuklearen beste Freunde: Putin und Lukaschenko im Kreml, April 2023.
Vladimir Astapkovich / Imago
15. Juni
Im Mai sah der weissrussische Diktator Alexander Lukaschenko so bedrückt aus, als wäre er zum Galgen verurteilt worden, aber jetzt, im Juni, lächelt er und lacht sogar. Vielleicht ist er ja nervös. Vielleicht ist es ja das Alter. Aber höchstwahrscheinlich ist sich «Kakerlake» (Lukaschenko trägt diesen Spitznamen wegen seines Schnurrbarts) sicher, dass er sein Leben gerettet hat und für ihn alles gut werden wird.
«Wenn der Krieg beginnt, muss ich dann Rücksicht nehmen?», so äussert sich Lukaschenko zu Atomwaffen. «Ich nehme den Hörer ab, und egal, wo er [Putin] sich befindet, er nimmt ihn auch ab. Er ruft an, und ich nehme den Hörer ab – jeden Moment! Auch jetzt. Ist es denn ein Problem, eine gewisse Art von Raketenangriff zu koordinieren? Das ist doch gar keine Frage. Es gibt da nichts zu diskutieren.»
Warum sollte man sich auch Sorgen über einen Atomschlag machen? Darüber, einen Atomkrieg zu beginnen und einige Millionen Männer, Frauen und Kinder umzubringen? Was könnte einfacher, was natürlicher sein?
Lukaschenko behauptet, seine Raketen und Atombomben seien «dreimal so stark wie jene von Hiroshima und Nagasaki».
«Dort starben mehr als 80 000 Menschen auf einen Schlag», sagt er. «Und diese Bombe ist dreimal so stark. Dies ist . . . nun, ich weiss es nicht. Bis zu eine Million Menschen werden sofort getötet werden.»
Was aber ist für ihn der Tod einer Million einzigartiger Menschen, von Leuten, von denen jeder Einzelne sein eigenes Patchwork aus Erinnerungen, Gefühlen, Macken, Ambitionen, Sinnstiftungen, Talenten, Beziehungen zu Freunden und Liebsten, persönlichen Erfahrungen, kreativen Einfällen, moralischen Überzeugungen und freundlichen Taten besitzt?
Nichts als ein weiterer Grund zum Kichern. Eines Tages überliess die Welt Weissrussland und die Weissrussen der Willkür und Gnade dieses Diktators, und nun wird die Welt ernten, was sie gesät hat.
Die Welt hätte das nicht zulassen dürfen. Es existieren 193 Länder auf der Welt, und keines von ihnen steht allein wie ein Stern am Himmel. Das 21. Jahrhundert hat uns alle in eine Sternenkonstellation gefügt, in «Problema Major», und jeder winzige Diktator, dem man gestattet, auf die Grösse einer riesigen Kakerlake anzuwachsen, stellt eine echte Bedrohung für jeden der acht Milliarden Menschen dar, die auf der Erde leben.
Lukaschenko hat mit seinem Gekicher und seinen dummen Sprüchen, die er periodisch von sich gibt, hinlänglich bewiesen, dass er absolut grausam und rücksichtslos sein kann. Wenn es darum geht, das eigene Leben und die eigene Macht zu bewahren, wird er, ohne zu zögern, eine Million Menschen dem Verderben preisgeben. Keine Frage, das ist kein Problem für ihn.
Beängstigend ist, dass in den letzten Tagen in den ukrainischen Medien immer mehr Material zu diesem Thema auftaucht: Habt keine Angst, heisst es da, habt keine Angst.
Habt keine Angst, sagen sie uns, all diese Gefahren durch den Einsatz von Atomwaffen sind stark übertrieben . . . Es verhält sich so, dass Abrüstungspolitiker den Menschen ständig Angst machen, indem sie behaupten, dass Atomexplosionen sehr gefährlich seien und dass ein Atomkrieg jeden töten könne. Dabei müsste man, um die gesamte menschliche Zivilisation zu vernichten, dreimal so viele Nuklearbomben haben, wie derzeit real vorhanden sind. Haben Sie also keine Angst, die Menschheit wird überleben.
Das ist wirklich ungeheuer beruhigend.
Habt keine Angst, sagen sie uns. In der Tat sind in Hiroshima und Nagasaki viele Menschen gestorben. Aber das ist in Ordnung. Es war nicht das Ende der Welt. Heute führen die Leute dort ein normales Leben, so als ob nichts passiert wäre.
Das ist beruhigend. Das ist noch viel beruhigender.
Habt keine Angst, sagen sie uns. Lukaschenko wird niemals eine Million Menschen mit einem Schlag töten. Es braucht mehrere Schläge, um auf diese Zahl zu kommen. Wenn es einen Schlag gibt und es dann zu einem massiven Gegenschlag kommt, dann wird es definitiv eine Million Tote geben. Aber seien Sie unbesorgt.
Der Radius der vollständigen Vernichtung durch eine taktische Nuklearbombe beträgt lediglich ein paar Kilometer. Jener der teilweisen Zerstörung beträgt bloss fünfzehn Kilometer. Das bedeutet, dass ein Gebiet mit einem Durchmesser von nur dreissig Kilometern stark betroffen sein wird. Das ist ein bisschen mehr als die Fläche der Stadt Charkiw.
Aber werden sie überhaupt in der Lage sein, unsere Städte mit Atomwaffen einzuäschern? Natürlich nicht. Sollen sie es doch versuchen. Unsere Flugabwehr wird alle Raketen abfangen.
Das allerdings ist etwas weniger beruhigend. Die Flugabwehr kann keine russischen S-300-Raketen abschiessen, die auf Charkiw gerichtet sind; sie kann weder Kinschals noch Iskanders vom Himmel holen; sie kann nicht einmal einer iranischen Drohne den Garaus machen, die so langsam fliegt und so laut brummt, dass selbst ein Blinder sie nicht verfehlen würde, wenn er sich nach dem Geräusch orientierte.
Gestern um zwei Uhr morgens explodierte eine weitere iranische Drohne unweit meiner Strasse, obwohl in den Nachrichten behauptet wird, dass so etwas nicht passieren kann.
Auch vor der Strahlung braucht ihr keine Angst zu haben, sagt man uns. Ja, natürlich wird es eine radioaktive Verseuchung geben, vor der es kein Entkommen gibt. Aber sie wird nur in den ersten zwei Stunden tödlich sein. Habt also keine Angst, fürchtet euch nicht.
Sorgen machen wir uns trotzdem.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 265. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
