SERIE - Die Wahrheit schwimmt in Kriegszeiten unsichtbar wie ein Fisch in einem Fluss, der zwischen zwei Lügenufern fliesst Die Wahrheit schwimmt in Kriegszeiten unsichtbar wie ein Fisch in einem Fluss, der zwischen zwei Lügenufern fliesst
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Entsetzen nach dem Raketenangriff auf die beliebte Pizzeria Ria in Kramatorsk, 27. Juni 2023.
Wojciech Grzedzinski / Anadolu / Getty
29. Juni
Die Wahrheit des Krieges besteht darin, dass man uns ständig Lügen erzählt.
Man lügt uns an, auch wenn es nicht um die Lage an der Front oder die Täuschung des Feindes geht. Aus irgendeinem Grund werden wir wie geistig Zurückgebliebene oder kleine Kinder behandelt, denen man versichert, dass die Spritze überhaupt nicht weh tut.
Der Sicherheitsdienst der Ukraine hat den Späher verhaftet, der für den russischen Raketenangriff auf eine Pizzeria in Kramatorsk die Zielkoordinaten verraten hat. In einem Video, das uns gezeigt wurde, wiederholt dieser Mann offensichtlich einen auswendig gelernten Text.
Er sagt, er habe von den Russen den Auftrag erhalten, eine Pizzeria in Kramatorsk zu filmen. Er filmte diese Pizzeria, in der sich Zivilisten, unter ihnen auch Kinder, aufhielten. Später erfuhr er aus den News von dem russischen Raketenangriff, bei dem viele Zivilisten, unter ihnen auch Frauen und Kinder, getötet wurden. Daraufhin rief er seinen russischen Auftraggeber an und berichtete, dass viele Zivilisten, unter ihnen Kinder und Frauen, ums Leben gekommen seien.
Es mutet seltsam an, dass er in achtzig Sekunden dreimal dieselben Worte über Zivilisten, Frauen und Kinder in der Pizzeria wiederholt. Beim letzten Mal stolpert er und vergisst beinah, seine Botschaft über Zivilisten, Frauen und Kinder zu wiederholen, aber dann sagt er sie doch noch brav auf.
In der Tat ergibt es keinen Sinn, dass der Späher die Russen anrief und ihnen mitteilte, dass in der Pizzeria «Zivilisten, einschliesslich Frauen und Kinder, ums Leben gekommen» seien, denn nach seinen Angaben erfuhr er davon aus den Nachrichten, und es ist klar, dass die Russen diese Nachrichten ebenfalls gehört haben.
Wichtig ist auch, dass es keine Logik hatte, eine teure Iskander-Rakete auf eine Pizzeria abzufeuern, in der sich nur Zivilisten, Frauen und Kinder aufhielten. Es gab Hunderte von anderen beliebten Pizzerien, die die Russen hätten angreifen können, wenn sie nur Zivilisten, einschliesslich Frauen und Kinder, hätten töten wollen.
Was keineswegs heisst, dass der Späher die beliebte Pizzeria nicht gefilmt und das Video nicht an die Feinde geschickt hat. Es bedeutet nur, dass die Botschaft, die der ukrainische Sicherheitsdienst uns und der ganzen Welt so hartnäckig aufdrängen wollte, so klang: «In der Pizzeria, die Russland angegriffen hat, befanden sich ausschliesslich Zivilisten, unter ihnen Frauen und Kinder.»
Doch das war die Lage von gestern. Heute liest der Späher einen ganz anderen Text vor. Heute sagt er, er hätte von den Russen den Auftrag erhalten, Standorte des Militärs in der Stadt zu überprüfen. In einer Pizzeria im Zentrum habe er ein Auto mit militärischem Kennzeichen gesehen und es auf Video aufgenommen. Natürlich könnte es sich bei dieser Version der Geschichte um eine Lüge handeln, vielleicht aber ist sie näher an der Wahrheit.
Am russischen Flussufer der Lügen wachsen ganz verschiedene Giftpilze.
Zunächst behaupteten die Russen nach der Attacke, sie hätten einen erfolgreichen Raketenangriff auf den Standort ausländischer Söldner durchgeführt und dabei mindestens zwanzig von ihnen getötet und dreissig verwundet.
Bald wurde diese phantastische Lüge durch eine andere, noch weniger plausible ersetzt. Die Russen fanden plötzlich heraus, dass sie das Hauptquartier der Kommandeure einer motorisierten Infanteriebrigade der Streitkräfte der Ukraine angegriffen und vernichtet hatten. (Wobei etwas seltsam anmutet, dass sich ihr Gefechtsstand in einer belebten Pizzeria befunden haben soll.) Mit dem gleichen Schlag seien auch ausländische Söldner angegriffen worden. Jegliche Information, dass Zivilisten zu Schaden gekommen seien, bezeichneten die Russen als Lüge.
Aber die Russen lieferten noch eine dritte Lügenversion, denn schliesslich lässt sich ein Dutzend toter Zivilisten nicht gut verbergen. Die Fotos der beiden vierzehnjährigen Zwillingsmädchen, die ums Leben kamen, werden um die Welt gehen, auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass diese über dem Anblick ihrer Augen und ihres Lächelns vor Schmerz erschaudern wird. Denn die Welt hat sich bereits an die Tatsache gewöhnt, dass wir Ukrainer methodisch getötet werden.
Jetzt schreiben die Russen, dass eine Gruppe von ukrainischen Offizieren getroffen wurde. Und auch ausländische Söldner hätten sich in der Pizzeria aufgehalten. Und ja, es gab zivile Tote und Verwundete. Einige Menschen wurden von den Trümmern verschüttet.
Was, wenn wir es auf die Realität herunterbrechen, bedeutet, dass sich keine ausländischen Söldner in der Pizzeria befanden, aber einige Zivilisten getötet wurden.
Aber befanden sich wirklich ukrainische Soldaten in der Pizzeria? Aus irgendeinem Grund werden wir das nicht erfahren, als ob die Tatsache, dass durchaus auch Menschen in Uniform eine Pizzeria aufsuchen, unseren Patriotismus und unseren Glauben an den Sieg für immer untergraben könnte.
Die Wahrheit schwimmt in Kriegszeiten unsichtbar wie ein Fisch in einem Fluss, der zwischen zwei Lügenufern fliesst. Normalerweise hält sie sich näher am ukrainischen Ufer, aber aus irgendeinem Grund kommt sie ihm nur selten wirklich nahe.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 279. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
