SERIE - Soweit ich weiss, besitzen die Kugeln in den neuen Cluster-Granaten einen Durchmesser von drei Millimetern – was heisst, das Ergebnis wird kein erfreuliches sein Soweit ich weiss, besitzen die Kugeln in den neuen Cluster-Granaten einen Durchmesser von drei Millimetern – was heisst, das Ergebnis wird kein erfreuliches sein
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Streumunition benutzen die Russen schon seit Beginn des Krieges. Slowjansk, 3. Juli 2022.
Michal Burza / Imago
8. Juli
Heute ging unser Nachbar hinaus, setzte sich zum Rauchen auf die Veranda und sagte dann mit undeutlicher Stimme, dass seine Lippen taub seien. Als er versuchte, aufzustehen, fiel er fast hin. Wir brachten ihn nach Hause und massen seinen Blutdruck – er lag bei 242 zu 120. Überraschenderweise war der Krankenwagen nach nur fünf Minuten da. Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass ein Krankenwagen vor unserem Haus auftauchte.
Viele Wohnungen in unserem Haus stehen leer. In der Wohnung über uns liegt eine Frau mit einem Schlaganfall darnieder. In der Wohnung unter uns kann eine andere Frau nicht mehr aufstehen. Um uns herum gibt es vor allem Alte und Sterbende. Der Krieg hat die Menschen weggeblasen wie der Wind die Schirmflieger-Samen einer Pusteblume.
Inzwischen haben die USA beschlossen, Streumunition an die Ukraine zu liefern. Das kann die Situation auf dem Schlachtfeld verändern oder auch nicht, je nachdem, wie langsam der Nachschub hereintropfen wird. Streumunition kann ein Übel sein, das ein viel grösseres Übel stoppt, oder ein Übel, das gar nichts stoppt, sondern nur die Gesamtmenge des Übels erhöht, so wie die Folterung eines Folterers oder die Vergewaltigung eines Vergewaltigers dies tun.
Der Folterer und Vergewaltiger, also Russland, hat vom ersten Tag des Krieges an Streumunition eingesetzt.
Eines Tages, es war im Winter, kontaktierten mich Journalisten von CNN. Sie sagten, dass sie planten, nach Charkiw zu kommen, und fragten, was sie sich meiner Meinung nach hier ansehen sollten. Ich empfahl ihnen unter anderem die Buchma-Strasse. In der Buchma-Strasse, im nördlichen Teil der Stadt, hatte ich Dutzende von Kratern gesehen, die von den Explosionen russischer Raketen mit Streumunition herrührten.
Diese Munition durchschlug Bäume, perforierte den Asphalt, hinterliess Dellen in Betonwänden und durchlöcherte Menschen, so dass sie aussahen wie Schweizer Käse – oder, wenn die herumfliegenden Splitter winzig waren, wie Teebeutel, die statt mit Tee mit Blut gefüllt waren.
Dann verstärkte sich der Beschuss von Charkiw, und soweit ich weiss, kamen die Journalisten von CNN nie hierher. Auf jeden Fall habe ich nie wieder etwas von ihnen gehört.
Es wird heute kaum noch erwähnt, aber laut den Analysten von Ukraine Weapons Tracker hat die Ukraine schon einmal Streumunition von den USA erhalten, und zwar eine M30A1-Rakete für das Himars-System. Dies geschah im letzten Herbst. Höchstwahrscheinlich gab es nur wenige solcher Raketen, die aus unbekannten Gründen nur einmal geliefert wurden.
Eine M30A1-Rakete, die mit 182 000 Wolframkugeln (genauer gesagt, Kugeln aus Wolframkarbid, das nicht so zerbrechlich ist wie reines Wolfram) gefüllt ist, explodiert in einer Höhe von mehreren Metern über dem Boden.
Diese Kugeln sind so konzipiert, dass sie in erster Linie weiche Ziele, wie etwa menschliche Körper, zerstören. Sie durchschlagen mühelos jede kugelsichere Weste und gehen auch durch eine dünne Panzerstahlplatte wie durch weichen Lehm. Sie fliegen durch die Metallwände von Lastwagen, in denen Leute transportiert werden, wie durch dünnes Papier und hinterlassen eine Reihe von perfekt runden Löchern. Die Metallfläche gleicht nach dem Einschlag einem Sternenhimmel.
«Der Rahmen ist voller Löcher . . . piep, piep, piep . . . das ist Macht . . . piep, piep, piep . . . Es durchbohrt alles, was man sich vorstellen kann . . . piep, piep, piep . . . Die Turbine ist wie ein Sieb . . . piep, piep, piep . . . Hier gibt es nichts zu restaurieren . . . piep, piep, piep . . . Sieht aus, als hätte eine Kompanie Soldaten mit Maschinengewehren darauf geschossen . . . piep, piep, piep . . . Das machen die amerikanischen Himars, geladen mit Stahlkugeln . . . piep, piep, piep . . . Davor kann man sich nicht verstecken.» Das sagt ein russischer Soldat, der einen von einer M30A1 getroffenen Kamaz-Lastwagen inspiziert, und fügt noch viele weitere unflätige Worte hinzu, die ich auch mit Piepsern ersetzen müsste. Die Kugeln, von denen er spricht, sind nicht aus Stahl, sondern aus Wolframkarbid.
Die von den Kugeln geschlagenen Löcher haben vollkommen glatte Ränder, und sie besitzen keine Dellen. Das heisst, dass die Kugeln so schnell flogen, dass sie das Hindernis gar nicht «bemerkten». Am meisten hat mich überrascht, dass auch die dicken Stahlfedern des Lastwagens durchbohrt wurden. Aber das ist wahrscheinlich nichts Spezielles, denn die Geschwindigkeit, mit der die Kugelladung verstreut wird, beträgt mehr als achttausend Meter pro Sekunde.
In der Stimme des russischen Soldaten schwingt verhaltene Bewunderung mit. Er ist wütend und verängstigt, aber auch beeindruckt von den Möglichkeiten westlicher Militärtechnologie. 182 000 Kugeln decken in einer einzigen Salve eine Fläche von einer halben Quadratmeile ab und vermögen Hunderte von russischen Soldaten zu treffen.
Soweit ich weiss, besitzen die Kugeln in den Cluster-Granaten einen Durchmesser von etwa drei Millimetern. Was heisst, das Ergebnis wird kein erfreuliches sein.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 288. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
