SERIE - Wiktor Gunn starb, weil Menschen dazu neigen, beleidigt zu sein, wenn jemand anders denkt als sie selbst. Dichter zu sein, ist einer der gefährlichsten Berufe der Welt Wiktor Gunn starb, weil Menschen dazu neigen, beleidigt zu sein, wenn jemand anders denkt als sie selbst. Dichter zu sein, ist einer der gefährlichsten Berufe der Welt
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

So friedlich könnte Odessa sein. Eine Frau giesst ihre Blumen, 15. Mai 2014.
Vadim Ghirda / AP
12. Juli
Wenn ich mich nicht täusche, war es Paul Éluard, der einen schönen Satz prägte: «Solange es auf der Erde einen gewaltsamen Tod gibt, muss der Dichter als Erster sterben.»
In der Tat sind die Statistiken über den Tod von Dichtern ziemlich schockierend. Apollinaire starb mit 28, Lorca mit 38, Catull mit 30, Cyrano mit 36, Keats mit 26, Lermontow mit 27, Puschkin mit 38. Dichter zu sein, ist wahrscheinlich einer der gefährlichsten Berufe auf diesem Planeten.
Aber Dichter sterben nicht nur eines gewaltsamen Todes. Hart Crane sprang von einem Boot, Sylvia Plath vergaste sich, Attila Jozsef stürzte sich unter einen Zug; Alfonsina Storni ertrank, und Marina Zwetajewa brachte sich nach einem Streit mit ihrem Sohn um.
Vielleicht geht es hier nicht um Gewalt, sondern um Missverständnisse, die zu Gewalt führen können oder auch nicht. Oder vielleicht sterben Dichter so früh, weil sie aus irgendeinem Grund dazu neigen, beleidigt zu sein, wenn sie merken, dass jemand anders denkt als sie selbst.
Aber Menschen denken nicht anders, weil sie jemanden beleidigen wollen. Man denkt anders, weil die Wahrheit vielschichtig ist, und nur die Lüge ist flach wie eine Schallplatte und besitzt nur zwei Seiten: Ja oder Nein, Freund oder Feind, mit uns oder gegen uns, wertschätzen oder töten.
Ich habe bereits über den ukrainischen Dichter Wolodimir Wakulenko geschrieben, der von den Russen in der Region Charkiw hingerichtet wurde. Er war durch und durch proukrainisch und wurde eben deshalb erschossen. Die russischen Soldaten waren persönlich beleidigt, weil es jemand gewagt hatte, anders zu denken als sie.
Zuerst entführten und schlugen sie ihn, um ihm das richtige Denken beizubringen, aber weil sie damit nicht zum gewünschten Ergebnis kamen, erschossen sie ihn. Hätte er seine Ansichten geändert und angefangen, «die russische Welt» zu loben, hätte er zweifellos überlebt.
Aber das tat er nicht. Für einen Dichter bedeutet eine abstrakte Idee immer mehr als sein eigenes Leben. In der Tat gehört es nachgerade zur Berufsbeschreibung eines Poeten, dass er bereit ist, sein Leben oder zumindest einen grossen Teil davon, Jahre und Jahre, gegen eine Handvoll unsterblicher Worte einzutauschen.
Wolodimir Wakulenko vergrub sein Tagebuch unter einem Kirschbaum. Es wurde von einer ukrainischen Dichterin, Wiktoria Amelina, gefunden. Als sie das nächste Dorf erreicht hatte, fotografierte sie sofort die Seiten des Tagebuchs und schickte die Fotos an den Direktor des Literaturmuseums in Charkiw. Nun konnte sie aufatmen. Die Botschaft an die Welt war gerettet, und selbst wenn sie gestorben oder auf eine Mine oder etwas anderes getreten wäre, hätte das «die Worte» nicht beschädigen können.
«Die Worte» sind wichtiger als ein Leben.
Wiktoria Amelina starb ein Jahr später. Sie trat zwar nicht auf eine russische Mine, aber sie gehörte zu denen, die bei dem russischen Raketenangriff auf die Pizzeria Ria in Kramatorsk getötet wurden. Die Russen hatten gehofft, dort Gruppen von ukrainischen Militärangehörigen ausradieren zu können. Die Tatsache, dass sich in der Pizzeria viele Zivilisten aufhielten, störte sie überhaupt nicht.
Der Angriff auf die Pizzeria erfolgte am 27. Juni, aber die Ärzte kämpften noch einige Tage danach um das Leben von Wiktoria Amelina. Sie starb am 1. Juli, dem Geburtstag von Wolodimir Wakulenko, dem Dichter, dessen Tagebuch sie gerettet hatte. Was für ein gespenstischer Zufall.
Der 2014 verstorbene Odessaer Dichter Wadim Negaturow unterstützte Putin und die russische Welt. Er schrieb zum Beispiel Zeilen wie diese:
«Russen, stürmt voran! Russen, stürmt voran! Lasst uns die Horde dreckiger böser Geister vernichten! Russland ist wieder einmal in Gefahr! Heute ist es an uns, unsere Liebe zum Vaterland zu beweisen! Beweisen wir unsere Liebe zum Vaterland durch unsere Taten! Beweisen wir unsere Liebe zum Vaterland mit unserem Blut! Beweisen wir die Liebe zum Vaterland mit unserem Leben!» Und so weiter und so weiter, ganz furchtbar.
Das bedeutet, dass Negaturow anders dachte, ganz anders, aber es bedeutet nicht, dass er so sterben musste, wie er starb. Er war einer derjenigen, die am 2. Mai 2014 aus dem Fenster des brennenden Gewerkschaftshauses in Odessa springen mussten, um sich vor dem Feuer zu retten. Er fiel auf brennende Reifen, um den Aufprall abzufedern.
Der Grossteil seines Körpers war verbrannt, aber er war noch bei Bewusstsein, als er ins Krankenhaus gebracht wurde. Im Gegensatz zu dem, was die russische Propaganda behauptet, hat niemand versucht, ihn totzuschlagen, im Gegenteil, alle waren bemüht, ihn zu retten. Im Krankenhaus hat er bis zur letzten Minute gebetet.
Ein anderer Dichter aus Odessa, Wiktor Gunn, schaffte es nicht, aus dem Fenster des Gewerkschaftshauses zu springen. Es lähmte ihn wohl die Angst, und er verbrannte. Auch er war ein Anhänger Putins, aber das heisst nicht, dass er den Tod verdient hätte. Er starb, weil er anders dachte. Er starb, weil Menschen dazu neigen, beleidigt zu sein, wenn jemand anders denkt als sie selbst. Dichter zu sein, ist wahrscheinlich einer der gefährlichsten Berufe auf diesem Planeten.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 292. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
