SERIE - Taras Schewtschenko, der ukrainische Nationaldichter, schrieb auch Gedichte auf Russisch, also steht er jetzt auch auf dem Index Taras Schewtschenko, der ukrainische Nationaldichter, schrieb auch Gedichte auf Russisch, also steht er jetzt auch auf dem Index
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Stillleben mit Ruine und Spielzeug in Charkiw, Mai 2022.
Esteban Biba / Imago
26. Juli
Einige Wohngebiete von Charkiw sind mit Chruschtschowkas bebaut, sprich mit fünfstöckigen, stinklangweiligen Quadern, die nur ein Minimum an Lebensqualität bieten. Ich wohne jetzt in einem dieser Chruschtschowka-Häuser, und in der nächsten Strasse, nur dreihundert Meter von mir entfernt, lebte einst der grösste aller Charkiwer Dichter und zweifellos einer der grossen Dichter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Boris Tschitschibabin.
Die russische Version von Wikipedia nennt ihn einen russischen Dichter, nur weil er auf Russisch schrieb, obwohl er in der Ukraine geboren wurde und sein ganzes Leben lang in Charkiw verbrachte, mit Ausnahme der Jahre, die er in Stalins Lagern eingesperrt war. Übrigens bin ich auch in der Ukraine geboren und war mein ganzes Leben über in Charkiw, aber die russische Wikipedia nennt mich einen ukrainischen Schriftsteller. Ich bin offenbar nicht wertvoll genug, um geklaut zu werden.
Tschitschibabin sagte über sich selbst: «Ich bin kein Dichter, sondern ein Amateur, der etwas zu sagen hatte, als die offiziellen Dichter noch schwiegen.» Seine Gedichte zeugen von keiner virtuosen poetischen Technik, und manchmal mögen sie eintönig erscheinen. Aber was zählt, ist nicht, wie er etwas sagt, sondern was er sagt. Er ist ein sehr humaner, humanistischer, barmherziger, überhaupt nicht böser Dichter; seine Gedichte können nicht in ein Bajonett verwandelt werden.
Aber ich irre mich – es ist schon auch wichtig, wie er etwas sagt. Er sprach oft langsam, schaute auf den Boden, als ob es ihm schwerfiele, ein Wort auszusprechen, und diese Art und Weise liess einen alles, was er sagte, ernst nehmen. Er gab nie leere Worte von sich, und jedes Wort war so bedeutungsschwer, wie ein mit Rogen oder besser gesagt Kaviar gefüllter Buckellachs schwer ist.
Um den Fischvergleich fortzusetzen, kann ich bestätigen, dass die Dichter in der Sowjetunion unter einem erschreckenden Druck lebten, so wie Fische in der Dunkelheit einer Tiefseezone. Die Macht dieses Drucks ist für jene, die in einem freien Land leben, kaum vorstellbar. Hier nur ein paar Fakten.
Tschitschibabin hatte das Glück, den Zweiten Weltkrieg zu überleben. Nachdem er nach Charkiw heimgekehrt war, trat er der philologischen Fakultät der Universität bei, aber jemand meldete den Behörden, dass er Gedichte schreibe. Er wurde verhaftet. Wenn ein Philologe Gedichte schreibt, dann ist er offenbar ein Verbrecher.
Nachdem Tschitschibabin fünf Jahre in Stalins Lagern verbracht hatte, kehrte er erneut nach Charkiw zurück. Nun musste er sich als Buchhalter durchschlagen. Allmählich fanden seine Gedichte den Weg in den Druck, aber nur «systemkonforme» oder von der Zensur verstümmelte. Er betrieb in Charkiw ein literarisches Atelier, doch wieder denunzierte ihn jemand, und der KGB setzte dem «Treiben» ein Ende. Die nächsten dreiundzwanzig Jahre war er nur noch Buchhalter bei den Charkiwer Strassenbahn- und Trolleybus-Betrieben.
Sechs Jahre vor seinem Tod flossen ihm die besten Gedichte aus der Feder, und endlich setzte auch breite Anerkennung ein – doch später, ebenso plötzlich, begann sich der Ruhm zu verflüchtigen, denn im Grossen und Ganzen konnten weder die Ukraine noch Russland viel mit ihm anfangen.

Boris Tschitschibabin schreibt dem Komponisten Grigory Hansburg 1992 eine Widmung ins Buch.
Tschitschibabin war in der Grauzone der Kultur gelandet. Die Ukraine brauchte ihn nicht, weil es in seinen Gedichten nur einen universellen, zeitlosen Humanismus gab und kein «Ukrainischsein», und Russland hatte keinen Bedarf, weil Humanismus und Russland wie Engel und der Flugsaurier Pterodactylus sind: Beide verfügen sie über Flügel, aber hier enden definitiv die Gemeinsamkeiten.
Manchmal gehe ich an dem Haus vorbei, in dem Tschitschibabin lebte. An der Wand ist eine unscheinbare Gedenktafel angebracht. Heute kann man seine Gedichte in Charkiw noch laut lesen, aber in Kiew zum Beispiel ist das nicht mehr möglich. Seit dem 13. Juli ist es verboten, ein «russischsprachiges Werk» aufzuführen, unabhängig von seinem Inhalt.
Das Verbot erstreckt sich sogar auf Objekte von «künstlerischer, historischer, ethnografischer und wissenschaftlicher Bedeutung», das heisst, auch das Periodensystem der Elemente von Mendelejew ist offenbar verboten. Taras Schewtschenko, der ukrainische Nationaldichter, schrieb auch Lyrik auf Russisch, so dass es den Kiewer Behörden gelang, sogar dessen Gedichte auf den Index zu setzen.
Dieses Verbot steht in direktem Widerspruch zur Verfassung der Ukraine, doch wenn es um die Sprache geht, greift die Verfassung nicht mehr, oder besser gesagt: Sie funktioniert nur noch in eine Richtung. Statt mit verbundenen Augen unparteiisch zu bleiben, trägt Themis, die Göttin der Gerechtigkeit, eine Augenbinde, welche nur ein Auge bedeckt.
Verbote wie diese rollen langsam, aber sicher vom Westen in den Osten der Ukraine, so wie eine Dampfwalze, die alles dem Erdboden gleichmacht. Wenn der Krieg noch lange andauert, wird die Dampfwalze irgendwann auch in Charkiw angekommen sein, und dann werden die Gedichte des grössten Charkiwer Dichters nicht nur unpublizierbar sein, sondern auch nicht vorgelesen werden können.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Es vereinigt Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 306. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
