SERIE - Es ist gewiss nicht die klügste Überlebensstrategie, während des Raketenbeschusses auf dem Balkon zu stehen, aber die Leute glauben an die Macht des Schicksals Es ist gewiss nicht die klügste Überlebensstrategie, während des Raketenbeschusses auf dem Balkon zu stehen, aber die Leute glauben an die Macht des Schicksals
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Der am meisten mitgenommene Stadtteil Charkiws, Chalkiwka. März 2022.
Daniel Carde / Imago
5. August
Charkiw liegt in den Hügeln, auf den südlichsten Ausläufern des Zentralrussischen Hochlandes. Hinter meiner Strasse beginnt das breite, mehrere Kilometer lange Tal des Flusses Nemischlia. Es stehen dort in der Mehrzahl kleine Häuser, die von Grünflächen umgeben sind. Daneben aber gibt es dicht mit hellen, hohen Wohnhäusern bebaute Hügel. Das ist Saltiwka, jener Teil von Charkiw, der am meisten Schaden genommen hat.
Ein Mann, der im zehnten Stock eines Hochhauses gegenüber von mir wohnt, sagt, dass er selbst während des Beschusses immer gerne auf den Balkon gegangen sei, um die Aussicht zu geniessen. Von seinem Balkon aus kann man die Nemischlia sehen und den grössten Teil von Saltiwka überblicken. Letztes Jahr war das Haus, in dem er lebt, leer. Ausser ihm wohnte nur noch ein alter Mann im vierten Stock.
Beide wagten sich während des Beschusses auf den Balkon. Tagsüber beobachteten sie die schrägen Rauchsäulen, die düster und tragisch über Saltiwka emporstiegen, und nachts sahen sie die Explosionsblitze und die leuchtend orangefarbenen Punkte der Raketen, die auf die Stadt niedergingen. Selbst mit Überschallgeschwindigkeit braucht eine Rakete immer noch fünf bis sieben Sekunden, um den Himmel über Charkiw zu durchqueren, und das ist genug Zeit, um ins Innere der Wohnung zu flüchten, wenn man den Eindruck hat, dass das Geschoss auf einen zufliegt.
Die beiden Männer diskutierten jeweils darüber, was genau gerade wieder explodiert war. Ihnen war klar, dass es nicht die klügste Überlebensstrategie ist, während des Beschusses auf dem Balkon zu stehen, aber die Leute, die in Charkiw ausgeharrt haben, sind alle bis zu einem gewissen Grad Fatalisten mit derselben Lebenseinstellung: «Wenn der Tod dich finden will, dann findet er dich, egal wo du bist, in der Küche oder auf dem Balkon.»
Jene, die anders denken, haben in den ersten Tagen und Monaten des Krieges alles getan, um die Stadt zu verlassen. Jetzt warten sie das Geschehen in europäischen Städten ab, die so sicher sind wie die Umarmung einer Mutter, und einige lehren uns sogar Patriotismus, aber aus der sicheren Ferne.
Der Mann vom zehnten Stock erzählte mir, dass eines Tages eine S-300-Rakete direkt über seinen Kopf hinwegflog. Sie dröhnte wie ein Düsenflugzeug und war langsam genug, dass er ihre schlanke Form erkennen konnte. Sie war etwa so lang wie ein Kleinbus und von grauer Farbe.
Er erwähnte nicht, dass er Angst gehabt hatte, und er sprach ruhig, ja sogar aufgeräumt über den Vorfall. Ich denke, dass eine Rakete, die direkt über dich hinwegfliegt, nicht allzu beängstigend ist.
Ich kenne durchaus auch das Gefühl der Resignation vor dem Schicksal. Aber wahrscheinlich handelt es sich um keinen dauerhaften Charakterzug, sondern um einen während des Krieges entwickelten Schutzmechanismus, der es einem erlaubt, weiterhin ein relativ normales Leben zu führen. Auch wenn ständig Raketen und Granaten in der Umgebung explodieren.
Jetzt, da Charkiw seltener angegriffen wird, gerät dieser psychologische Mechanismus ins Wanken. Seit wir von iranischen Drohnen angegriffen werden, die wie Motorräder brummen, zucke ich jedes Mal zusammen, wenn ich durch das Fenster das Geräusch eines herannahenden Autos oder Töffs höre.
Um zehn Uhr werden die Strassenlampen ausgeschaltet, um elf beginnt die Ausgangssperre, und zwischen zehn und elf Uhr abends brausen nur noch wenige Autos durch die dunklen und leeren Strassen. Ihre Motoren klingen genau wie iranische Drohnen, besonders aus der Ferne.
Vergangene Nacht hat mich ein Gewitter wachgehalten. Entfernte Donnerschläge ähneln Explosionsgeräuschen, und selbst wenn man versteht, dass es nur ein Gewitter ist, zehrt es an den Nerven. Man tritt ans Fenster und wird über dem Horizont Blitzen gewahr, die wie bläuliche, geäderte Lampenschirme in Form eines menschlichen Gehirns aussehen. Die Logik sagt einem, dass eine neue russische Offensive nicht aus dem Süden kommen kann. Nur ein Gewitter kann sich aus dieser Richtung nähern, aber schlafen kann man trotzdem nicht.
Als ich ein Kind war, gab es ein Lied über den Zweiten Weltkrieg:
«Wir wachen auf, und um Mitternacht rollt entweder ein Gewitter über uns hinweg oder ein Echo des vergangenen Krieges.»
Erst jetzt habe ich angefangen zu verstehen, worum es in diesen Zeilen ging.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Es vereinigt Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der Beginn des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 316. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
