SERIE - Putin säugt die russische Nation, und auf deren riesigem Körper wachsen giftige Warzen, die Putin ernähren Putin säugt die russische Nation, und auf deren riesigem Körper wachsen giftige Warzen, die Putin ernähren
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

«Es handelt sich um gegenseitige Liebe vom ersten bis zum letzten Blick»: Putin-Fanklub in Moskau, 2007.
Yuri Kozyrev / Laif
13. August
Unsere Freundin, die die Ukraine während des Krieges verlassen hat, findet jeden Tag im Internet Nachrichten und Videos, die belegen, wie böse, grausam, faschistisch und psychopathisch alle Russen sind, und schickt sie an Lena, mit der sie seit fast anderthalb Jahren über dieses Thema diskutiert. Jedes Mal sucht Lena nach Gegenargumenten und antwortet, dass die Russen nicht deshalb so schlecht seien, weil sie Russen seien, sondern weil sie zwanzig Jahre lang toxischer totalitärer Propaganda ausgesetzt gewesen seien.
Beide bringen sie immer neue Fakten und frische Argumente vor, und der Streit zieht sich oft bis weit nach Mitternacht hin, ohne dass es zu einer Einigung käme.
Ihre Kontroverse ist alles andere als neu. Menschen streiten über solche Dinge immer dann, wenn ein neues faschistisches Regime auftaucht und sie schwer verletzt. Auch während des Zweiten Weltkriegs gab es ähnliche Standpunkte. Einer These nach waren die Deutschen per se schlecht, das heisst aggressiv, zerstörerisch, bereit zur Vergötterung eines Führers, intolerant gegenüber Andersdenkenden und so weiter, weshalb Hitler als Verkörperung des kollektiven Unbewussten des deutschen Volkes erscheint.
Die gegenteilige Ansicht besagt, dass das kultivierte und fleissige deutsche Volk, das der Welt so viele bedeutende Dichter, Komponisten, Philosophen, Wissenschafter und andere Genies geschenkt habe, ursprünglich gut gewesen, aber von der nationalsozialistischen Propaganda überwältigt worden sei. Mittels Gewalt, Massenterror und Desinformation veränderten die neuen Machthaber das Bewusstsein der Leute, und sie begannen, den Nationalsozialismus zu unterstützen.
Dieses Argument griff schon vor achtzig Jahren nicht, und heute greift es ebenso wenig. Es geht eigentlich um eine Variation der Huhn-Ei-Frage: Was war zuerst da?
Wenn wir über das moderne Russland sprechen, dann erschienen Putin, der das Bewusstsein des Volkes mithilfe von Lügen und Gewalt formte, und das Volk, das diese Art von Führer zu unterstützen und den von ihm verkündeten ideologischen Dreck zu schlucken bereit war, gleichzeitig auf der Bildfläche. Es kam eine organisch ablaufende Entwicklung in Gang. Es war eine gemeinsame Evolution, die eine Million kleiner Schritte aufeinander zu umfasst, hin zu einem gemeinsamen Ideal. Ihr Ergebnis ist der Faschismus.
Es handelt sich um gegenseitige Liebe vom ersten bis zum letzten Blick. Vor uns zeigt sich eine Variante des Uroboros, jener Schlange, die ihren Schwanz verschluckt: Putin säugt die russische Nation, und auf deren riesigem Körper wachsen giftige Warzen, die Putin ernähren.
Der Drache und das Drachen-Ei haben sich zur gleichen Zeit entwickelt.
Die früheste Erwähnung des russischen Faschismus, die ich gefunden habe, stammt aus dem Jahr 1922. In einem seiner Romane schreibt Vladimir Nabokov: «Zehn Jahre sollten vergehen bis zu einer gewissen Nacht im Jahre 1922, als mein Vater bei einem öffentlichen Vortrag in Berlin den Vortragenden (seinen alten Freund Miljukow) vor den Kugeln zweier russischer Faschisten schützte und, während er einen der Attentäter energisch niederschlug, von der Pistole des anderen tödlich getroffen wurde.»
Es gibt verschiedene Definitionen dessen, was «Raschismus» oder russischer Faschismus ist. Einige von ihnen sind sehr ungenau, wie zum Beispiel: «Russischer Faschismus zeichnet sich durch den Personenkult um den weltweit führenden Terroristen aus.» Andere sind präziser, aber einseitig, wie etwa: «Russischer Faschismus entwächst der Ideologie der Überlegenheit der russischen Welt über den Rest des Planeten.»
Ich persönlich bevorzuge die Definition, die vor fast hundert Jahren von einem von Putins Lieblingsphilosophen, Iwan Iljin, einem begeisterten Anhänger des Faschismus, gegeben wurde.
Iljin schrieb einen Artikel «Über den russischen Faschismus», in dem er argumentiert, dass der russische Faschismus ein weiter gefasster Begriff sei, der auch ein religiöses Moment umfasse, das im gewöhnlichen Faschismus nicht vorhanden sei.
Dies ist eine sehr zutreffende Beobachtung, auch wenn man sie auf die heutige Zeit überträgt. Die russisch-orthodoxe Kirche segnet täglich den Krieg in der Ukraine, segnet die Ermordung orthodoxer Christen, welche niemandem etwas zuleide getan haben, segnet die Zerstörung von Städten und ziviler Infrastruktur und segnet auch Hunderttausende von Russen, damit sie im Namen des Vaterlandes sterben, allerdings nicht in ihrer Heimat, sondern in einem fremden Land.
In seinem Artikel gibt Iljin eine interessante Definition des Faschismus: Faschismus sei ein heilsames Übermass an patriotischer Gesetzlosigkeit. Heilsame Gesetzlosigkeit ist genau das, was Putin in Russland kultiviert.
Der russische Faschismus bedeutet also ein heilsames Übermass an patriotischer Gesetzlosigkeit, der ein religiöses Motiv zugrunde liegt.
Genauer und alles zusammenfassend gesagt, ist der russische Faschismus ein heilsames Übermass an patriotischer Gesetzlosigkeit, das ein religiöses Moment, den Personenkult um den weltweit führenden Terroristen sowie die Ideologie der Überlegenheit der russischen Welt einschliesst.
Zur Person
PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Es vereinigt Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der Beginn des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 324. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
