SERIE - Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Für mich ist jeder, der an der Front gefallen ist, um uns Lebende zu schützen, ein Held Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Für mich ist jeder, der an der Front gefallen ist, um uns Lebende zu schützen, ein Held
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

Trauer um den bei einem Training unweit von Kiew tödlich verunfallten Kampfpiloten Andri «Juice» Pilschikow. 29. August 2023.
Paula Bronstein / Getty
25. August
Ich gehe die Strasse hinunter, und ein Auto mit Beamten eines Einberufungsbüros überholt mich. Ich habe einen grauen Drei-Wochen-Bart, und vielleicht beachten sie mich deshalb nicht weiter. Sie halten zwanzig Meter vor mir an, steigen aus und beginnen ein Gespräch mit einem jüngeren Mann.
Gemeinsam bleiben sie in der Nähe der Bänke stehen, auf denen mehrere dicke alte Damen sitzen. Die Frauen beginnen die Beamten sogleich anzuschreien. Vielleicht kennen sie ja den Mann, der eine Vorladung erhalten wird, oder sie wollen nur unter Beweis stellen, dass dies ihr Revier ist und sie hier das Sagen haben.
«Was seid ihr nur für Männer!», attackieren sie die Aushebungsbeamten. «Ihr seid Feiglinge, keine Männer! Ihr seid schlimmer als Frauen! Warum geht ihr nicht selbst an die Front und kämpft selber wie richtige Männer? Alles, was ihr könnt, ist, euch hinter dem Rock einer Frau zu verstecken!»
Die Staatsdiener steigen zurück ins Auto und fahren weg. Sie haben den Mann nicht einberufen, aber ich glaube, ihm hat nicht das Geschrei der Frauen, sondern etwas anderes geholfen.
Ich fahre eine der Charkiwer Alleen entlang und erblicke vor mir eine bräunlich-graue Rauchwolke. Mein erster Gedanke ist, dass es hier ein Feuer gibt, und ich erwarte, dass gleich die Sirenen der Feuerwehr zu hören sind. Aber es gibt keine Feuerwehrautos, und ich kann auch keine Flammen erkennen.
Nach einiger Zeit bemerke ich, dass sich die Rauchwolke bewegt, und bald überhole ich einen jener schweren Panzertransporter, die man oft auf Charkiws Strassen sieht, beladen mit beschädigten oder intakten Panzern. Diesmal jedoch ist die Plattform leer, doch aus den Auspuffrohren, die in zwei Richtungen ragen, quillt dichter, grauer Rauch. Er ballt sich zu einer dichten, braungrauen Wolke.
In der Fahrerkabine sitzt ein junger Mann. Er lächelt, und man sieht ihm an, dass ihn die Rauchwolke, die er ausstösst, nicht im Geringsten beunruhigt. Vielleicht hat er ja recht. Er bringt uns dem Sieg näher, und im Verhältnis zu diesem Sieg ist alles andere unbedeutend.
Ein ganzes Jahr lang prangte auf den Plakatwänden entlang der Charkiwer Alleen sinnlos gewordene, absurde Werbung aus der Vorkriegszeit. Jetzt hat man diese Plakate endlich entfernt. An ihrer Stelle hängen jetzt Schwarz-Weiss-Fotos von toten Kämpfern. Es gibt unüberblickbar viele, und ich kann nicht sagen, ob sich die Namen und Fotos wiederholen. Viele von denjenigen, deren Porträts zu sehen sind, tragen den Ehrentitel «Held der Ukraine».
Ich glaube ja auch, dass jeder, der im Krieg umgekommen ist, um uns, die Lebenden, zu schützen, ein Held ist, aber es ist unmöglich, jeden mit dem Heldentitel zu ehren, und es ist unangemessen, sie auf zigtausend Plakatwänden mit Fotos und Namen entlang der Strassen zu feiern. Nach dem Tod sind alle Menschen gleich, aber so wie im Leben auch sind einige offenbar gleicher als andere.
Heute schreibt mir eine Facebook-Freundin:
«Mein Mann, der Vater meiner jüngeren Tochter, ist in der Region Saporischja gestorben. Er starb, als er seine Kameraden zu beschützen versuchte. Wir kämpfen dafür, dass ihm der Titel ‹Held der Ukraine› verliehen wird. Bitte unterzeichnen auch Sie die Petition und verbreiten Sie sie, wenn möglich, weiter unter Ihren Freunden.»
Ich gehe auf die Website der Präsidialadministration und lese die dort publizierten Petitionen:
«Owatschuk Iwan Arkadjowitsch ist ein echter Held, der die höchste staatliche Auszeichnung ‹Held der Ukraine› (postum) verdient . . .
Sehr geehrter Herr Präsident, ich bitte Sie, unserem Verteidiger Guido Andri Wolodimirowitsch postum den Ehrentitel ‹Held der Ukraine›» zu verleihen . . .
Verleihung des Ehrentitels eines ‹Helden der Ukraine› (postum) an Sergi Wolodimirowitsch Gonchar . . .»
Die Liste ist 71 Seiten lang. Es sind Tausende von Menschen aufgeführt. Ich finde Fotos von einigen von ihnen. Auf jedem ist ein junger Mann zu sehen; und ein jeder gibt sich als Optimist mit einem netten Lächeln.
Ich nehme Kontakt zu der Frau auf, deren Mann gefallen ist. Sie schreibt mir, dass ich mit ihrer Tochter, die nun keinen Vater mehr hat, telefonieren könne. Sie werde mir Näheres über den toten Helden erzählen, denn sie habe noch immer Kontakt zu seinen Freunden an der Front.
Ich aber habe ein ungutes Gefühl, mit einem Mädchen zu sprechen, das vor kurzem seinen Vater verloren hat. Ich kann es einfach nicht, meine Nerven machen nicht mit. Deshalb unterschreibe ich einfach die Petition, ohne irgendetwas Genaueres über die Person zu wissen, die unbedingt mit dem Titel eines «Helden der Ukraine» ausgezeichnet werden soll.
Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Für mich ist jeder, der an der Front gefallen ist, um uns Lebende zu schützen, ein Held.
Zur Person
PD
Sergei Gerasimow: Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Es vereinigt Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der Beginn des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der xxx. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
