SERIE - Die zwei Soldaten betatschten die junge Frau, mehr aber wagten sie nicht, denn die Beute gehörte ihrem geliebten Kommandanten, einem braungebrannten Oberst mit Spitznamen «der Wolf» Die zwei Soldaten betatschten die junge Frau, mehr aber wagten sie nicht, denn die Beute gehörte ihrem geliebten Kommandanten, einem braungebrannten Oberst mit Spitznamen «der Wolf»
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.
Die 51-jährige Natalia Kulintschenko vor ihrem zerstörten Haus in Malotaraniwka, 29. April 2023.
Sofiia Gatilowa / Reuters
2. September
Emil Achmerow, Oberst und Kommandeur des russischen Artillerieregiments 99, ist in Russland eine angesehene Persönlichkeit. In der wichtigsten Militärzeitung des Landes, der «Krasnaja Swesda», erschienen mindestens zwei Artikel über ihn. In der Ukraine indes ist er im «Buch der Folterer» unter der Nummer 1774 aufgeführt. Dort können wir in der Spalte «Detaillierte Beschreibung der Verbrechen» über ihn lesen:
«Er nahm direkt am offenen militärischen Angriffskrieg gegen die Ukraine teil. Er partizipierte an Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschliesslich sexueller Übergriffe auf Zivilisten.»
Diese Beschreibung seiner Untaten scheint mir allerdings nicht ausführlich genug zu sein, weshalb ich hier noch ein paar Worte hinzufügen möchte.
Vor ein paar Tagen haben die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden Emil Achmerow (in Abwesenheit) wegen des Verdachts der Gruppenvergewaltigung festgenommen. Zusammen mit ihm werden zwei weitere Personen, ebenfalls in Abwesenheit, angeklagt: der Gefreite Schljapnikow und der Sergeant Mammiew.
Ich bin kein Jurist und verstehe nicht, wozu solche Vorladungen gut sein sollen, wenn Schljapnikow (ein 21-jähriger Patriot mit dem Gesicht eines Putin-gläubigen Idioten) und Mammiew (zur Tatzeit 24 Jahre alt) in der Ukraine bereits «liquidiert» worden sind.
Das heisst, zwei der drei Mitglieder dieser kriminellen Kleingruppe starben innerhalb eines Jahres im Krieg in der Ukraine. Dies deutet entweder darauf hin, dass die durchschnittliche Todesrate unter den russischen Invasoren in der Ukraine bei 67 Prozent pro Jahr liegt, oder darauf, dass Karma tatsächlich existiert und schnell und stark wirkt.
Was jedoch Schljapnikow betrifft, so war «ausgleichende Gerechtigkeit» nicht der einzige Grund für seinen Tod. Starräugige Russen mit den Gesichtern von patriotischen Dummköpfen leben im Kampf in der Ukraine nicht lange, vor allem nicht, wenn sie den militärischen Rang eines Gefreiten haben.
Es ist schwer zu sagen, ob Oberst Emil Achmerow (44 Jahre alt, Spitzname «der Wolf», laut russischen Zeitungen ein vorbildlicher Familienvater) persönlich angeordnet hat, dass an diesem Tag eine ukrainische Frau zu ihm gebracht wird, oder ob seine Untergebenen selbst beschlossen haben, mit ihrer Beibringung ihrem Kommandeur zu gefallen. Ersteres ist wahrscheinlicher, denn die russische Zeitung «Krasnaja Swesda» lobt Emil Achmerow vor allem als vorbildlichen Mentor, der seine Erfahrungen und Fähigkeiten gerne an junge Offiziere weitergibt.
«Der Kommandeur freut sich immer, wenn seine Untergebenen alles mitbekommen, was er ihnen beigebracht hat», sagte Emil Achmerow zu einem russischen Journalisten.
Offenbar hat es auch dieses Mal gut funktioniert.
Und das ist passiert: Schljapnikow und Mammiew brachen in den Hof eines Privathauses in einem der besetzten Dörfer der Region Charkiw ein. Dort erblickten sie einen jungen Mann und begannen, aus ihren Schnellfeuergewehren zu schiessen, nicht auf den Mann, sondern auf die Schuppen. Eine zwanzigjährige Frau, die mit ihrem Freund und ihrer Mutter in dem Haus lebte, kam, von den Schüssen eingeschüchtert, heraus. Die Russen nahmen allen die Mobiltelefone ab, überprüften diese und vergewisserten sich, dass sie nichts Verdächtiges enthielten.
Danach verliessen sie das Haus, kehrten aber am Abend mit einem anderen, bis anhin noch nicht identifizierten Kumpel zurück und befahlen dem jungen Mann, die Frau in den Hof zu rufen. Dann setzten sie die Frau in einen Transporter und drohten den übrigen Familienmitgliedern, sie zu erschiessen, falls sie sich dagegen zur Wehr setzten.
Sie zogen der Frau eine Kapuze über den Kopf, damit sie sich nicht an den Weg würde erinnern können, den sie mit ihr zurücklegten, und betatschten sie unterwegs; mehr aber wagten sie nicht, denn die Beute gehörte ihrem geliebten Kommandanten, einem braungebrannten Oberst mit Spitznamen «der Wolf».
Emil Achmerows Bräune ist übrigens seit mehr als zwanzig Jahren konstant. Während dieser Zeit diente er in südlichen Regionen und Ländern: in Tschetschenien, Tadschikistan, Armenien und Dagestan. Dort absolvierte er eine Gefechtsausbildung, in die sich laut einer russischen Zeitung «auch Kampfeinsätze schoben». Es ist beängstigend, sich vorzustellen, was für Einsätze das waren.
Nachdem die Frau in das Haus des Obersts gebracht und in einem der Zimmer zurückgelassen worden war, kam es zu einem Missverständnis: Ein nicht identifizierter russischer Militär betrat das Zimmer und vergewaltigte sie. Dann betrat ein anderer nicht identifizierter russischer Soldat den Raum und sagte, dass dies sehr schlecht und falsch sei, da der Regimentskommandeur, der geliebte Mentor Emil Achmerow, die Frau als Erster hätte vergewaltigen sollen. Das Missverständnis klärte sich rasch.
Übrigens hat das russische Kulturministerium vor kurzem in Sorge um die hohe Moral aller Russen und jedes einzelnen Russen den Hollywood-Spielfilm «Barbie» verboten. Natürlich ist die Moral der Russen bereits unglaublich hoch, aber warum sollte es hier nicht möglich sein, nach den Sternen zu greifen?
Zur Person
PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Es vereinigt Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der Beginn des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 344. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.