SERIE - Sollen Russen nun ihre Sprache aufgeben, weil Putin sie verdorben hat? In dieser Logik müsste man auch den Buchstaben Z verbieten, denn diesen hat er am meisten versaut Sollen Russen nun ihre Sprache aufgeben, weil Putin sie verdorben hat? In dieser Logik müsste man auch den Buchstaben Z verbieten, denn diesen hat er am meisten versaut
Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

«Guten Morgen.» – «Hier gibt es keinen guten Morgen.» Zerstörtes Wohnhaus im Norden von Charkiw. 4. Februar 2023.
Daniel Pilar / Laif
28. Februar 2023
Wir sprechen mit einer Frau und ihrem Mann in einer jener Strassen, die am stärksten verwüstet wurden. Es sind nur sehr wenige Menschen unterwegs, die meisten sind alt. Die jüngeren scheinen zumeist Touristen zu sein, die, als wäre Charkiw ein Museum, gekommen sind, um zu schauen, was ein Krieg in einer Stadt anrichten kann. Sie beobachten und fotografieren Dinge, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Von Narben entstellt, stehen die Gebäude ringsum schweigend und bilden eine surreale Szenerie. Jedes von ihnen ist eine einzigartige, vertikal sich ausbreitende Wüste, die Schichten ihrer inneren Anatomie offenbart.
Die Frau sagt, sie sei Russin, aus Jakutien. Ich denke, es gehört schon eine gewisse Portion Mut dazu, sich als Russin zu bezeichnen, jetzt, da dieses Wort in den Herzen der Menschen nur noch Hass evoziert, jetzt, da die Russen für mehrere Generationen die Ehre verloren haben. Sie spricht natürlich Russisch. Sie hat lange Zeit in Charkiw gelebt. Während der gefährlichsten Zeit des Krieges verliess sie die Stadt für einige Monate, kehrte dann aber hierher zurück, in diese einst so lebendige Strasse, die ihr Zuhause ist.
Die Frau hat zahlreiche Verwandte in Russland. An einem der ersten Kriegstage schickten sie ihr eine SMS: «Guten Morgen!» Es war nicht das übliche russische «Dobroye utro» (Guten Morgen), sondern «Dobroye utrechko», bei dem das russische Wort für «Morgen» mit einem liebenswerten Suffix versehen ist. Im Russischen benutzt man es, um über etwas sehr Schönes, Zartes und Angenehmes zu sprechen.
Die Frau kochte damals über vor Wut. Sie schrieb ihren Verwandten in Russland, dass es in Charkiw überhaupt keinen guten Morgen gebe. Ein riesiger und schrecklicher Krieg sei im Gange. Gebäude explodierten, und Trümmer regneten auf die Strasse hinunter. Rauch und Asche stiegen in den Himmel. Menschen starben. Was die Frau aber vollends aus der Bahn warf, war die Antwort ihrer Verwandten.
«Es muss erst noch geprüft werden, ob dies stimmt oder nicht», hielten sie ihr entgegen, und das klang wie der subtilste und demütigendste Hohn, der überhaupt möglich war.
«Wenn das so ist, dann kommt doch her und überprüft es selbst», schrieb die Frau zurück, und an diesem Tag hat sie den Kontakt zu ihren Verwandten eingestellt.
Jetzt erklären unsere Behörden, dass nach dem Krieg ausnahmslos alles Russische in der Ukraine von der Bildfläche verschwinden solle. Ich frage mich, was sie mit Menschen wie dieser Frau, die Russisch spricht und sich als Russin betrachtet, anstellen werden. Immer grösser wird die Zahl der Stimmen, die von der kollektiven Verantwortung des gesamten russischen Volkes sprechen, davon, dass alle Russen schuld seien und dass sie einem schlechten Genpool entstammten.
«Ich frage mich, wie es möglich ist», sagte Lena eines Tages zu mir, «dass Menschen, die fünf Kilometer südlich der Grenze leben, einen guten Genpool haben, während die Gene von Menschen, die fünf Kilometer nördlich leben, schlecht sein sollen.»
Die Argumentation derer, die von der kollektiven Verantwortung aller Russen sprechen, ist einfach. Der Krieg liegt nicht in Putins Verantwortung, er ist die Schuld aller Russen, denn die Menschen haben den Mann verdient, der über sie herrscht. Wenn ihr Russen Putin nicht gestürzt habt, dann seid ihr selber daran schuld. Wenn ihr Russisch sprechen wollt, dann macht euch auf in euer Russland und sprecht Russisch in Russland, denn Putin benutzt die russische Sprache als Waffe. Auf Nimmerwiedersehen. Und schaut, dass die Tür euch keinen Tritt gibt, wenn ihr rausgeht.
Die Frau aus Jakutien soll sich also zu ihren Verwandten trollen, die über den Krieg sagen: «Das alles muss noch geprüft werden.»
Viele Menschen, vor allem die nicht sehr klugen, denken, dass dies der optimale Ansatz sei. Aber die Wahrheit erweist sich als tiefer und vielschichtiger.
Die Frau erzählt, dass ihr Vater einst nach Jakutien verbannt worden sei. Sie wurde während dieses Exils geboren. Sie erinnert sich, dass die meisten Menschen, unter denen sie damals in Jakutien lebten, ukrainische Namen trugen. Es waren Ukrainer, welche das Sowjetregime in den abgelegenen Norden des Imperiums verbannt hatte.
Diese Leute hatten Kinder, und ihre Kinder sprachen jetzt Russisch. Sie kehrten in ihre ukrainische Heimat zurück, und nun stellt sich heraus, dass alles Russische, ohne Ausnahme, eliminiert werden soll.
«Warum soll ich meine Sprache aufgeben? Weil Putin sie so sehr verdorben und dermassen missbraucht hat?», fragt die Frau. «Dann sollten wir auch den Buchstaben Z verbieten, weil er diesen noch mehr versaut hat.»
Das ist eine interessante Idee. Aber wie könnte ich dann einen englischen Satz schreiben wie: «Zoe’s buzzing, dizzying jazz band dazzled the dozen judges, leaving them amazed and totally jazzed»?
Putin läge richtiger, wenn er seine Horden losschickte, nicht um ukrainische «Nazis», sondern das «freie Volk der Ukraine» zu töten
1. März 2023
Unser Freund, der mittlerweile in Deutschland lebt, erzählt uns von Leuten, die er früher sehr gut kannte und sogar als Freunde bezeichnete. Jetzt sagen sie ihm, natürlich auf elektronischem Weg, aber direkt ins Gesicht, dass sie jeden, der in der Ukraine lebe, umbringen wollten. Sie sind so hasserfüllt, dass sie sich sogar bereit erklären, selber in einem Atomkrieg zu sterben.
Mein Freund fragt sie: «Was ist mit euren Kindern? Sie werden in eurem Atomkrieg auch ums Leben kommen.»
«Sollen sie doch», antworten sie mit einer infernalischen Gewissheit. So sehr hegen sie ihren Hass.
Zu erwähnen ist, dass dies nicht etwa der Standpunkt einiger weniger randständiger Individuen ist. Es sind Hunderttausende von Russen, die so denken. Es ist merkwürdig, denn die meisten von ihnen waren bis vor nicht allzu langer Zeit noch gebildete Menschen mit gesundem Verstand.
Mein Freund geht einen von ihnen an: «Stell dir vor, du würdest mobilisiert, du kämst nach Charkiw und würdest mich sehen. Was würdest du dann tun? Würdest du mich umbringen?»
Die Antwort ist verheerend. «Ich werde dich ohne jeden Zweifel umbringen, wenn du dich nicht vor der Ukraine lossagst.»
Die Grausamkeit von Menschen, die gegen eine Idee kämpfen, ist viel ausgeprägter als die Grausamkeit von Menschen, die Menschen gegenüberstehen. Denn Menschen, die gegen eine Idee kämpfen, sind selbst von einer eigenen anderen Idee infiziert, und diese Idee hat ihr Gehirn dermassen zerfressen, dass nichts Menschliches mehr in ihnen übrig ist: weder Mitgefühl noch Mitleid, nicht einmal Selbsterhaltungstrieb oder Liebe zu den eigenen Kindern.
Stellen wir uns eine rein hypothetische Situation vor. Nehmen wir an, dass solche Leute wirklich nach Charkiw kommen, die Stadt umzingeln und zu uns sagen: «Wir werden euch alle töten, wenn ihr die Ukraine nicht verdammt.» Was würde dann passieren? Die Ukrainer sind kluge Leute. Einige von ihnen werden lügen und vorgeben, dass sie bereit sind, den Invasoren gegenüber loyal zu sein. Aber nur sehr wenige von ihnen –vielleicht drei oder fünf Prozent – werden sich wirklich von ihrem Land lossagen. Daran wird kein Druck von aussen etwas ändern.
Dessen bin ich mir sicher, aber ich weiss nicht wirklich, warum das so ist. Es scheint, als gäbe es keine materiellen Grundlagen dafür.
Dieses Land hat uns nicht viel gegeben. Dreissig Jahre lang haben unsere korrupten Behörden in Luxus gebadet, während Millionen darbten. Wir hatten nie eine anständige Polizei, ein faires Rechtssystem oder eine hochstehende Medizin. Unser Leben dauert im Durchschnitt zwölf Jahre weniger lang als in den entwickelten Ländern Europas, und in Bezug auf die Lebenserwartung liegen wir zwischen Tadschikistan und Usbekistan. Das ist nicht verwunderlich, weil viele alte Menschen hier von einer 55-Dollar-Rente leben müssen.
Warum sind wir also bereit, für die Ukraine zu sterben? Nicht, weil die nationale Idee uns mit glühendem Patriotismus erfüllt. Wir sind bereit, für etwas anderes zu sterben. Die meisten Menschen, die in Charkiw leben, sprechen Russisch – ganz gleich, was die Propaganda darüber faselt –, und dennoch sind sie bereit, der Ukraine bis zum Tod die Treue zu halten. Viele haben das bewiesen, indem sie an der Front starben.
Es waren die russischsprachigen Städte Charkiw, Odessa und Mariupol, die 2014 die russische Plage aufhielten. Dieselben Städte, und natürlich Kiew, haben die russische Pest 2022 zum zweiten Mal zum Stehen gebracht. Wenn wir sagen «Ukraine oder Tod», dann meinen wir nicht «Nation oder Tod», wir meinen etwas ganz anderes. Für mich ist es gleichbedeutend mit «Freiheit oder Tod». Für jemand anderen ist es vielleicht «Selbstachtung oder Tod» oder «Würde oder Tod». Unsere Revolution von 2014 hiess «Revolution der Würde», nicht «Revolution der Nation» oder etwas in der Art.
Würde und Freiheit haben eine grössere und umfassendere Bedeutung als eine Nation, weil sie global sind; sie gehören der Menschheit als Ganzem. Sie umfassen den Respekt vor der Nation, aber auch Tausende andere Dinge.
Deshalb liegt Putin falsch, wenn er die Horden seiner sorgfältig einer Gehirnwäsche unterzogenen Mobiks losschickt, um «ukrainische Nazis» zu töten. Er läge viel richtiger, wenn er sie losschickte, um «das freie Volk der Ukraine» zu töten, das Volk der Ukraine, das sich selbst achtet und für sich und seine Überzeugungen einstehen kann.
Aber auch in vielen anderen Dingen lag Putin daneben. Eigentlich kenne ich keine einzige Angelegenheit, in der er richtig liegt.
Zur Person
PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 163. und der 164. Beitrag des vierten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
