Jeden Tag kommen an der Front Hunderte unserer Soldaten um. Sie werden so
lange sterben, wie das ...
SERIE - Jeden Tag kommen an der Front Hunderte unserer Soldaten um. Sie werden so lange sterben, wie das Kalkül über die Moral triumphiert Jeden Tag kommen an der Front Hunderte unserer Soldaten um. Sie werden so lange sterben, wie das Kalkül über die Moral triumphiert
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

Beerdigung eines im Kampf um Bachmut gefallenen ukrainischen Soldaten im Dorf Hnidin bei Kiew.
Roman Pilipey / Getty
20. Februar 2023
Dieser Krieg besitzt eine eigentümliche Eigenschaft: Irgendwie zieht er sich zugleich vorwärts und rückwärts in die Länge. Wir hören oft, dass wir einen weiteren Tag überlebt haben, und das bedeutet, dass wir unserem Sieg einen Tag näher gekommen sind. In Wirklichkeit scheint es genau andersherum zu sein: Wir haben einen Tag überlebt, aber der Sieg ist zwei, fünf oder zehn Tage in die Ferne gerückt. Das Ende dieses Krieges rückt immer weiter von uns weg.
Dadurch entsteht ein schwebendes Gefühl der Unwirklichkeit: Kein reales Objekt, ausser dem Horizont, kann sich so verhalten.
«Vielleicht träumen wir alle, und es gibt gar keinen Krieg», sagt Lena. Selbst wenn es sich wirklich um einen Traum handelt, werden wir lange Zeit nicht aus ihm erwachen können.
Die Leute in Charkiw sagen, dass alle Sanitäter in unserem psychiatrischen Krankenhaus – Psychiatrisches Krankenhaus Nr. 3 oder Saburowa Dacha, über das Tausende von Witzen kursieren – eingezogen worden sind. Ich weiss nicht, ob das stimmt oder ob es nur ein Gerücht ist. Wahrscheinlich sind nicht alle davon betroffen.
Aber warum nicht? Schliesslich ist ein Sanitäter in einer psychiatrischen Klinik ein relativ junger, körperlich starker Mann, der eine medizinische Ausbildung erhalten hat. Er weiss, wie man sich in gefährlichen Situationen verhält und wie man mit Geistesgestörten und Verrückten umgeht – Letzteres macht ihn besonders nützlich im Kampf gegen die Russen und den «Raschismus», die geistige Plage des 21. Jahrhunderts.
In der Zwischenzeit könnte der Zustrom moderner Waffen aus den USA und anderen Ländern, welche die Ukraine in diesem Krieg bisher unterstützt haben, allmählich versiegen. Man hört, dass die westlichen Arsenale zunehmend Schwierigkeiten haben, mit der Intensität der Kämpfe mitzuhalten, und dass keine Zeit bleibt, Granaten und Raketen neu herzustellen.
Das dämmrige, sich den Sanktionen entziehende und technologisch zurückgebliebene Russland schafft es, weiterhin Granaten und Raketen zu produzieren, der Westen hingegen nicht. Der ukrainischen Armee gehen schnell die Vorräte an Artilleriegranaten, Panzerabwehr-Lenkwaffen und Boden-Luft-Raketen aus, die zur Zerstörung russischer Panzer und Marschflugkörper benötigt werden.
In Russland arbeiteten die Rüstungsfabriken im Dreischichtbetrieb, damit sie mit dem Bedarf an der Front Schritt halten könnten, so sagt man es uns. Es ist entmutigend zu wissen, dass die russische Produktion noch mindestens hundert Jahre lang im Dreischichtbetrieb weiterläuft und liefert, was es braucht. Dieser Krieg wird niemals aufhören.
Es ist seltsam, dass das ärmliche und unterentwickelte Russland Wladimir Putins auf der einen Seite der Waage ebenso gut dasteht wie fünfzig technologisch fortgeschrittene Länder der zivilisierten Welt auf der anderen Seite. Es scheint fast, als würde jemand die Waage manipulieren.
Es gibt ein russisches Volkslied, in dem ein Mädchen nicht heiraten will, und es weigert sich zu Recht, denn wahrscheinlich ist es noch ein Kind. Die Mutter beruhigt ihre Tochter die ganze Zeit und sagt, dass niemand sie weggeben werde. Das Lied hat die Form eines Dialogs, und der ist wirklich ergreifend.
«Mutter, Mutter, warum ist da Staub auf dem Feld?» – «Liebes Kind, das sind die Pferde, die wild herumlaufen.»
«Mutter, Mutter, es kommen Gäste auf den Hof!» – «Liebes Kind, ich werde dich nicht verraten.»
«Mutter, Mutter, sie gehen auf die Veranda!» – «Liebes Kind, hab keine Angst.»
«Mutter, Mutter, sie gehen ins Wohnzimmer!» – «Liebes Kind, ich werde dich nicht verraten!»
«Mutter, Mutter, sie setzen sich an die Tische!» – «Liebes Kind, fürchte dich nicht!»
«Mutter, Mutter, sie segnen mich . . .» – «Liebes Kind, der Herr ist mit dir.»
Es sieht so aus, als ob die zivilisierte Welt, anstatt Putin so schnell wie möglich unschädlich zu machen, versucht, mit ihm so umzugehen, wie es die Mutter mit ihrer Tochter in dem Lied getan hat.
«Mutter, Mutter, willst du der Ukraine moderne Panzer geben?» – «Liebes Kind, das glaube ich nicht.»
«Mutter, Mutter, kommt Biden heute in der Ukraine an?» – «Liebes Kind, er wird nur Polen besuchen.»
Und so weiter, so langsam, wie Gletscher schmelzen, und so zäh, wie Gras wächst.
Aber in dem Lied ist es nur das Mädchen, das leidet. In Wirklichkeit kommen bei uns jeden Tag Hunderte unserer Soldaten ums Leben. Sie werden so lange sterben, wie das Kalkül über die Moral triumphiert. Und wenn sich nichts ändert, wird der Tag kommen, an dem die Leiche des letzten Sanitäters aus der letzten ukrainischen Nervenheilanstalt in einem Feldgraben verrottet. Was dann?
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 155. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
