SERIE - Manche bei der militärischen Aushebungskommission sind wie wilde Tiere, sie verteilen Aufgebote sogar an Behinderte Manche bei der militärischen Aushebungskommission sind wie wilde Tiere, sie verteilen Aufgebote sogar an Behinderte
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

Militärische Übung abseits vom Kampfgeschehen. Kiew, Februar 2022.
Antonio Bronic / Reuters
2. Februar 2023
Ein Mann, dem ich heute im Park begegnet bin, erzählt mir, wie er die medizinische Untersuchung im Militärkommissariat bestanden habe, oder – wie es jetzt euphemistisch genannt wird – im «territorialen Zentrum für Rekrutierung und soziale Unterstützung».
Der Mann führt seinen alten, depressiven Pudel spazieren. Er ist klein, hat eine Glatze und sieht aus wie um die vierzig. Er sagt, er habe Probleme mit seinem Rücken. Er leide unter Schmerzen in der Wirbelsäule, weshalb er keine kugelsichere Weste tragen könne.
«Dabei muss man stets eine kugelsichere Weste tragen, selbst wenn man nur an einem Kontrollpunkt Papiere überprüft. Und zwar den ganzen Tag», meint er. «Aber sie hätten mich bestimmt nicht ausgewählt, um am Kontrollpunkt Dokumente zu checken.»
Ich frage nach dem Grund.
«Weil es dort viel Korruption gibt», sagt er. «Sie schicken nur ihre Freunde und Verwandten dorthin.»
Ich denke an die Frauen, die an den beiden Kontrollpunkten hinter der Umgehungsstrasse von Charkiw meine Identität überprüft haben. Sie wirkten nicht wie Freunde und Verwandte von irgendjemandem. Sie waren genau da, wo sie hingehörten.
Sie glichen gut trainierten deutschen Schäferhunden, bereit, mich in Stücke zu reissen, ganz ohne Feindseligkeit, nur aus patriotischer Pflicht. Das ist als Kompliment gemeint.
Der Mann erzählt, dass er, nachdem er auf Vorladung der Kommission «zur Überprüfung der militärischen Registrierungsunterlagen» erschienen sei, die ärztliche Untersuchung absolviert und daraufhin einen fünfjährigen Dienstdispens erhalten habe.
Das System scheint also gut zu funktionieren. Wenn man gesundheitliche Probleme hat, braucht die Armee einen nicht. Aber es gibt einen Haken: Man muss unbedingt darauf bestehen, dass man nicht gesund ist. Wenn man das nicht tut, kann es sein, dass die Ärztekommission selbst offensichtliche Gesundheitsprobleme übersieht. Der Mann erwähnt seinen Freund, der ernsthafte Herzprobleme hatte, aber trotzdem dienen wollte. Er wurde zur Armee eingezogen. Dann erfuhr er eine hypertensive Krise und erlitt daraufhin einen Herzinfarkt.
«Hör auf zu simulieren, und tu deine Pflicht, Soldat», wurde ihm gesagt. Wenn man an der Front steht, hat man keine Zeit, sich mit Kleinigkeiten wie Bluthochdruck oder Brustschmerzen zu beschäftigen.
«Du meinst also, wenn du zur Armee willst, dann nehmen sie dich, egal ob du krank oder gesund bist?», frage ich.
«Nein, nicht wirklich», sagt er. «Während wir in der Schlange warteten, erschien ein betrunkener Mann und sagte, er wolle gern zur Armee. Sie fragten ihn nach seinem Pass. Er sagte, seine Frau habe ihm diesen weggenommen. Dann riefen sie ihm zu, er solle nach Hause zu seiner herrischen Frau gehen und bis ans Ende seiner Tage leiden.»
Der Mann erwähnt ein weiteres Problem mit der medizinischen Prüfungskommission: Zu viele Ärzte haben Charkiw verlassen. Wenn man sich also über seinen Gesundheitszustand beklagt und sagt, dass man dienstuntauglich sei, wird man in abgelegene Gegenden geschickt, wo es keinen Feindkontakt gibt.
Der Mann erzählt, er sei nach Neu-Wodolaha geschickt worden, einer Stadt, die zweiundfünfzig Kilometer von Charkiw entfernt liegt. Nachdem er dort die medizinische Untersuchung bestanden hatte, hiess man ihn, zurück nach Charkiw zu fahren, wo er sich in verschiedenen Krankenhäusern Tests unterziehen musste. Er musste für jeden Test bezahlen und auch für die Fahrten von Charkiw nach Neu-Wodolaha und zurück. Das kostete ihn zehntausend Hrywna, eine Summe, die er in zwei Monaten verdient.
«Manche Leute werfen die Vorladung einfach weg und tauchen gar nie beim Militärkommissariat auf», sage ich.
«Dafür gibt es eine Busse», sagt er.
«Aber sie beträgt nur dreitausend Hrywna.»
«Ja, aber man muss sie schon beim ersten Mal bezahlen, dann bekommt man eine neue Vorladung, und wenn man sie nicht befolgt, wird die Busse erneut fällig. Wenn du die Vorladung zehnmal verstreichen lässt, musst du das Bussgeld zehnmal bezahlen.»
Der Pudel beschnuppert mein Bein. Dann blickt er sein Herrchen mit traurigen grauen Augen an, was bedeutet, dass es an der Zeit ist, nach Hause zu gehen.
«Mein Rat also: Wenn du krank bist, dann sag es sofort», sagt der Mann. «Manche in der Kommission sind wie wilde Tiere, sie verteilen sogar Aufgebote an Behinderte.»
«Aber das ist doch illegal», sage ich.
«Nein, ist es nicht. Eine Vorladung kann an jeden ausgehändigt werden. Als wir in der Schlange sassen, und die Schlange war riesig, gab es einen Mann, der kaum stehen konnte. Wir baten ihn, sich hinzusetzen. Er lehnte ab und sagte, wenn er sich hinsetze, könne er nicht mehr aufstehen. Er hat sich nicht hingesetzt.»
Jetzt hat der Pudel ein Stück Gurkenschale aus dem Schnee gegraben und schaut uns mit einem Ausdruck von Stolz darüber an, dass auch ein blinder Hund einmal einen Knochen findet.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 138. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
