Jeder Kriegstag ist ein Schlag in die Magengrube. Und es ist unmöglich zu
sagen, welcher am meist...
https://www.nzz.ch/feuilleton/gerasimow-ueber-ein-jahr-krieg-in-der-ukraine-ld.1725873 Jeder Kriegstag ist ein Schlag in die Magengrube. Und es ist unmöglich zu sagen, welcher am meisten weh tut
Dass in Europa nochmals ein grosser Krieg ausbrechen könnte, war bis zum 24. Februar 2022 eine Denkunmöglichkeit. Und doch ist er in Form der russischen Invasion der Ukraine mit unglaublicher Brutalität Realität geworden.

«Die Sonne war am Morgen des 23. Februar so hell, als wäre es der letzte Tag der Menschheit.» – Flüchtlinge bei Irpin in der Nähe von Kiew, März 2022.
Felipe Dana / AP
Am 23. Februar 2022 war das Wetter überwiegend sonnig. Es war warm für den Monat. An diesen letzten Tag vor dem Krieg kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern. Es ist schade, dass die Zukunft keinen Schatten auf die Vergangenheit wirft. Man könnte sich umsehen und sich an so viele Dinge erinnern, bevor das Unvermeidliche geschieht.
Manche sagen, dass zum Tode Verurteilte versuchten, alles bewusst zu sehen und sich an alles zu erinnern in ihren finalen Stunden, Minuten und Sekunden, obwohl es ihnen unmöglich sei, etwas mitzunehmen. Zumindest haben sie ihre letzte Zigarette. Das haben wir nicht. Natürlich wurden wir nicht zum Tode verurteilt, aber ein grosser Teil von uns, von unseren Persönlichkeiten und unseren Glaubenssystemen, der vor dem 23. Februar Bestand hatte, ist gestorben.
Unser Leben wird immer im Licht dieses Krieges aufscheinen.
Wenn wir früher von «vor dem Krieg» sprachen, meinten wir den längst vergangenen Zweiten Weltkrieg, der eine Zäsur zwischen den Epochen darstellte und eine bleibende Narbe in unserer Geschichte hinterlassen hatte. Wenn wir jetzt sagen: «Es geschah vor dem Krieg», dann meinen wir immer «vor dem 24. Februar 2022».
Vor dem Krieg: Bevor wir in kürzester Zeit älter wurden, bevor wir verbittert und zynisch wurden, bevor wir aufhörten, an die Macht der Kultur und der Zivilisation zu glauben, bevor wir aufhörten, so harmlos wie Tauben zu sein, bevor wir doppelt so pessimistisch wurden wie jemals zuvor und gleichzeitig so klug wie Schlangen.
Aber als wir am Abend des 23. Februar 2022 zu Bett gingen, war die Welt noch weise und schön geordnet.
Wir wollten an alles denken, nur nicht an den Krieg. Wir dachten an die Zukunft, an den Frühling, der bald kommen würde. Wir hatten viele Pläne, die uns heute völlig lächerlich erscheinen. Es ist komisch, aber wir wollten einen schönen Sommer verbringen und endlich eine Reise entlang des Donez machen. Ein Jahr zuvor hatten wir das aus irgendeinem Grund, an den ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann, nicht zustande gebracht, aber 2022 schien uns nichts mehr aufhalten zu können.
Jetzt denke ich oft, dass die Bootsfahrt auf dem Donez vielleicht für immer verschoben werden muss. Es ist unwahrscheinlich, dass der Krieg bald zu Ende ist. Es kann unvorstellbar lange dauern, bis wir ihn gewinnen. Der sich lange hinziehende Krieg wird alles verändern wie ein starkes Erdbeben – das Land verschiebt sich, Berge wachsen, wo vorher Ebenen waren, und fangen an, Lava auszuspucken.
Das wunderschöne Tal des Donez-Flusses, der friedlichste Ort der Erde, wie mir immer schien, ist jetzt das am meisten verminte Gebiet der Welt. Es wird Generationen dauern, bis die Menschen in den Wäldern, auf den Wiesen und den wunderschönen Hügeln, von denen aus sich die schönsten Aussichten auf die Schöpfung eröffnen, nicht mehr auf Sprengsätze treten. Nachts werden nur Füchse und Rehe aufs Firmament der Sterne blicken. So viel zu einer Bootsfahrt.
Als ich an diesem Tag ins Bett ging, dachte ich an Tennis, denn der 23. Februar 2022 war ein Mittwoch, und wir hatten an diesem Tag ausgiebig gespielt.
Am Morgen dieses letzten Tennistages, als wir uns zwischen den Partien ausruhten, scherzten wir darüber, was wir für den Fall eines Krieges vorrätig haben sollten: Streichhölzer, Salz und Kerzen.
«Oh, wir brauchen gewiss Kerzen», sagte jemand lachend, «die können wir uns in das Rektum schieben, gegen Hämorrhoiden.» Das klang an diesem Tag ziemlich lustig, denn dass der Krieg tatsächlich ausbrechen würde, schien so unglaublich zu sein wie eine Invasion Ausserirdischer vom Saturn oder vom Neptun.
Die Russen waren an diesem Tag noch Brüder. Nicht die besten Brüder, natürlich, aber immer noch Brüder. Es gibt diese Art von Brüdern, die hochmütig und gemein sind, die dir manchmal eins auf die Nase geben oder dein Geld stehlen, aber sie sind immer noch Brüder, egal, was passiert, und du verzeihst ihnen immer, weil du dich daran erinnerst, wie sie dir früher im Bett Märchen vorgelesen haben und du mit ihnen gemeinsam die Seiten umgeblättert hast.
Ich kann mir die Russen nun nicht mehr als Brüder vorstellen. Nicht einmal mehr als Cousins und Cousinen dritten Grades. Ich denke an sie wie an einen brutalen Verrückten oder einen Opiumsüchtigen mit einer Granate in der Tasche. Mit beiden will ich nichts zu tun haben. Ich würde sie stehen lassen, wenn ich ihnen auf der Strasse begegnete, und ohne Zurücksehen meines Weges gehen.
So hatten wir also über den Krieg gescherzt, und die helle Wintersonne schien durch die Zweige der prächtigen Kiefern, die vor den Fenstern der Tennishalle wuchsen. Die Sonne war an diesem Morgen so hell, als wäre es der letzte Tag der Menschheit. Dies ist das letzte klare Bild, an das ich mich aus der Zeit vor dem Krieg erinnere: die Sonne und die alten, frostigen Kiefern. Ich weiss nicht, ob diese Halle die Kämpfe unbehelligt überstanden hat. Im März stand sie noch unbeschädigt, aber seither ist eine Ewigkeit vergangen.
Die wichtigste persönliche Befriedigung in diesem Kriegsjahr ist, dass wir noch leben. Die wichtigste Leistung von uns allen, die wir zu einem Land zusammengewachsen sind und uns an den Händen halten wie eine Menschenkette, ist, dass wir nicht aufgegeben haben. Dass wir uns unseres Sieges sicher sind, und zwar mehr denn je.
Schon als der Feind in die Strassen von Charkiw vorstiess, wussten wir, dass sich die Stadt niemals ergeben würde. Auch jetzt, wo die Invasoren einen erneuten grossen Angriff auf uns planen, sind wir uns unseres künftigen Triumphes sicher. Charkiw wird nie zu Moskowien gehören. Es mag eine russischsprachige Stadt sein oder nicht. Wir mögen Puschkin und Tschechow lieben oder ihre Namen übermalen, wo immer sie auftauchen. Was auch immer geschieht, Charkiw wird nie eine russische Stadt sein. Denn das Wort «russisch» ist zum Synonym geworden für . . .
. . . für das, was dieses riesige Land aus sich gemacht hat. «Krieg ist Sieg. Krieg ist Liebe. Der Krieg ist ein Freund. Der Krieg ist die Zukunft, eingebettet in Frieden», sagte die Gouverneurin des Autonomen Kreises Chanty-Mansijsk in Russland bei einem Treffen mit Schulkindern und lächelte dabei sanft und ein wenig kannibalisch. Die Jungen und Mädchen, die ihr zuhörten, waren bereits im Voraus in Militäruniformen gesteckt worden. Schliesslich ist der Krieg die Zukunft, also sollte niemand unvorbereitet sein.
Das vergangene Jahr war wie ein Wolkenbruch, wie ein riesiger Schneesturm aus Unglauben, Verwirrung, Fassungslosigkeit und Verstörung. Der grösste Schock war der Beginn des Krieges, der erste Tag – so wenigstens kam es mir am ersten Tag vor. Aber dann kam der zweite Tag, und auch er war ungeheuerlich. Dann der dritte, der vierte, der hundertste.
Manchmal, wenn es scheint, dass mich nichts auf dieser Welt mehr überraschen kann, halte ich inne, brüte vor mich hin und denke, dass das, was ich wahrnehme, unmöglich ist, weil es niemals vorkommen oder von einem Menschen einem anderen Menschen angetan werden kann.
Aber es kann, denn es ist Krieg. Und doch ist der Krieg real, der an den Menschen vorbeidonnert oder vielmehr über sie hinwegrollt wie ein entfesselter Moloch, der nicht nur ihr Zuhause, sondern oft auch ihr Leben zerstört. Und jeder Tag davon ist ein Schlag in die Magengrube. Und es ist unmöglich zu sagen, welcher am meisten weh tut.
Und doch ist die Zukunft Frieden, eingebettet in Krieg.
Zur Person

PD
Beobachter im Hochhaus
ABn. · Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 schreibt Sergei Wladimirowitsch Gerasimow ein Kriegstagebuch, das täglich auf nzz.ch und sporadisch auch in der Printausgabe der NZZ publiziert wird. Seine Aufzeichnungen vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologie-Lehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Arbeiten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Sergei Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil seiner Tagebücher liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
