SERIE - Das Lesen russischer Telegram-Kanäle ist so ungesund wie das Inhalieren von Kokain Das Lesen russischer Telegram-Kanäle ist so ungesund wie das Inhalieren von Kokain
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

Das dürfte eine ukrainische Rakete gewesen sein, ist auf russischen Telegram-Kanälen zu lesen. Zerstörter Wohnblock in Dnjepropetrowsk, 18. Januar 2023.
Clodagh Kilcoyne / Reuters
18. Januar 2023
Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert, dass jeder Einzelne das Recht habe, über alle Medien und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Ideen zu suchen, zu empfangen und weiterzugeben.
Artikel 34 der ukrainischen Verfassung wiederum garantiert jedem das Recht, Informationen nach eigenem Ermessen mündlich, schriftlich oder auf andere Weise zu sammeln, zu speichern, zu nutzen und weiterzugeben. Deshalb verstosse ich auch nicht gegen irgendwelche Regeln oder Gesetze, wenn ich mich heute auf russischen Telegram-Kanälen umtreibe.
Michailo Fedorow, der ukrainische Minister für digitale Transformation, hat alles, was auch nur im Entferntesten russisch ist, im Internet sperren lassen, einschliesslich Ratschlägen, wie man am besten alte Socken stopft oder Walenki (Filzstiefel) flickt, aber Telegram-Kanäle scheinen vom Bann ausgenommen zu sein. Allerdings bin ich mir der Gefahr, die da lauert, durchaus bewusst.
Das Lesen russischer Telegram-Kanäle ist so ungesund wie das Inhalieren von Kokain, und schon nach einer Viertelstunde wird mir schwindelig. Bald beginne ich, an meinem Verstand zu zweifeln. Doch dann gelingt es mir, nicht ohne Schwierigkeiten, mich in diesem wogenden Meer der freiwilligen Seelenspaltung zu verankern.
Das Erste, woran ich andocken kann, ist der Grund, warum die Russen glauben, dass ihre «Spezialoperation» notwendig sei.
«Die Unverletzlichkeit unserer Territorien ist heilig», schreiben sie grimmig und fühlen sich bereit, für diese Idee zu töten oder getötet zu werden, ohne zu bemerken, dass sie auf dem Territorium eines Nachbarvolkes kämpfen.
Mein zweiter Anker sind einige offensichtlich absurde Begriffe, mit denen die Beiträge gespickt sind. «Wozu brauchen die Ukrainer amerikanische Patriot-Systeme, wenn doch jeder weiss, dass die sowjetischen S-300 viel besser sind?», wird mit der unschuldigen Naivität blauäugiger Babys gefragt. Sie glauben wirklich daran.
Was mir drittens Halt gibt, sind die unmoralischen Dinge, die sie tun und die ihnen Spass machen, wie die Schadenfreude über den Tod von Zivilisten oder der Kick, der ihnen das Lied «Ich bin Russe, und ich habe Glück. Ich bin Russe, und die ganze Welt kann mich mal! Ich bin Russe!» bereitet.
Vielleicht stimmt ja etwas mit mir nicht, und ich bin allzu voreingenommen, überlege ich und versuche, «Russe» durch eine andere Nationalität zu ersetzen.
«Ich bin Nordkoreaner, und ich bin glücklich. Ich bin Nordkoreaner, und die ganze Welt geht mir am Arsch vorbei! Ich bin Nordkoreaner!»
O nein, das klingt schrecklich. Aber versuchen wir es noch einmal.
«Ich bin Brite, und ich bin glücklich. Ich bin Brite und spucke auf die ganze Welt! Ich bin Brite!»
Oder zum Beispiel: «Ich bin Schweizer, und ich habe Glück. Ich bin Schweizer, und die ganze Welt ist mir so was von egal! Ich bin Schweizer!»
Nein, das klingt beide Male bekloppt. Also müssen sie es doch sein, die verrückt geworden sind, und nicht ich.
Hinzu kommt, dass die Russen ständig lügen. Wo es ihnen verwehrt ist, über die grossen Dinge zu lügen, lügen sie in kleinen Dingen. Und wo sie auch da nicht zu lügen vermögen, laden sie Experten ein, die sowohl in grossen als auch in kleinen Dingen wahllos lügen.
So behaupten sie zum Beispiel, sie hätten gerade 100 Raketen auf die Ukraine abgefeuert und 99 davon hätten ihr Ziel präzis getroffen. Kann es also sein, dass eine einzelne Rakete ihr Ziel tatsächlich verfehlt hat? Nein, natürlich nicht! So muss es denn eine Rakete der ukrainischen Armee gewesen sein, die einen Teil eines grossen Wohnblocks in ihrer eigenen Stadt zerstört hat, als sie eine russische Rakete abfangen wollte, die ganz unschuldig vorbeiflog.
Die Wahrheit ist, dass nicht 100, sondern 38 Raketen abgefeuert wurden, darunter 5 monströse Kh-22, von denen eine in ein Wohnhochhaus in Dnipro einschlug. Möglicherweise hat sie ihr Angriffsziel schlicht verfehlt, denn die Abweichung vom Ziel beträgt bei dieser Art von fliegendem Schrott bis zu 600 Meter. Die Kh-22 ist eine sehr alte Rakete, die vor genau sechzig Jahren zum ersten Mal abgefeuert wurde, aber sie trägt fast eine Tonne Sprengstoff.
Dann, ganz plötzlich, stosse ich auf etwas, das wie eine normale Regung menschlicher Gefühle aussieht. Da ist es endlich: Es gibt Russen, die schreiben, dass sie Mitleid mit den Menschen hätten, die in Dnipro ums Leben gekommen seien.
«Warum tun uns die Zivilisten leid, die in Dnjepropetrowsk getötet wurden?», so zerbrechen sie sich den Kopf. «Schliesslich stehen diese Menschen auf der Seite des Feindes. Müssen wir nicht unbarmherzig zu ihnen sein, um gewinnen zu können?»
Das Kopfzerbrechen führt zu einem unerwarteten Ergebnis. Denn, so legen sie sich die Sache zurecht, «die Toten von Dnjepropetrowsk sind Leute, die definitiv Russen werden könnten und würden, wenn wir in der Stadt die Macht übernähmen».
Das ist also der Grund, warum sie betrübt sind. Nicht, weil es eine Sünde ist, Unschuldige zu töten, und nicht, weil das Bein eines Babys, das unter den Trümmern hervorlugt, auf sie ein wenig beunruhigend wirkt. Nein, nicht deswegen.
Was ihnen völlig entgeht, ist, dass sie diesen Krieg begonnen haben, um die Menschen zu befreien, die sie jetzt umbringen.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 122. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.
