SERIE - Ukrainische Soldaten berichten aus Soledar, dass der Feind unter Drogen stehen muss, denn selbst schwer verwundete Kämpfer kriechen weiter und geben sich nicht geschlagen
Ukrainische Soldaten berichten aus Soledar, dass der Feind unter Drogen
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SERIE - Ukrainische Soldaten berichten aus Soledar, dass der Feind unter Drogen stehen muss, denn selbst schwer verwundete Kämpfer kriechen weiter und geben sich nicht geschlagen Ukrainische Soldaten berichten aus Soledar, dass der Feind unter Drogen stehen muss, denn selbst schwer verwundete Kämpfer kriechen weiter und geben sich nicht geschlagen
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

Ein ukrainischer Soldat feuert bei Soledar mit dem Maschinengewehr auf russische Stellungen, Januar 2023.
Serhii Nuzhnenko / Reuters 14. Januar 2023
Fünfundzwanzig oder dreissig Russen kommen aus dem Wald. Sie schieben sich vorsichtig durchs offene Gehölz, in der Hoffnung, unbemerkt zu bleiben, aber ihre Tarnung hält nicht lange an. Die Ukrainer haben sie entdeckt und reden über das, was sich ihnen durch ihre Sichtgeräte darbietet.
Sie krabbeln wie Ameisen. Wie viele sind es, dreissig oder fünfundzwanzig?Wir werden sie später zählen, in der Nacht. Jetzt müssen wir sie zu fassen bekommen.In der Regel führen die Russen die Angriffe mit kleinen Gruppen aus. Die Angreifer schleichen sich so nah wie möglich an die Stellungen der ukrainischen Truppen heran und graben sich schnell ein. Jeder von ihnen trägt eine RPO-A Schmel und hat eine ausreichende Menge an Munition bei sich.
Traditionell kämpfen die Männer ohne kugelsichere Westen oder Helme. Wenn die erste gegnerische Gruppe vernichtet ist, werden weisse Bänder oder andere weisse Erkennungszeichen da angebracht, wo das Gefecht stattfand, und die nächste Gruppe rückt zur markierten Stelle vor. Kleine Angriffsgruppen tragen kleine Waffen, grössere Gruppen verfügen über schwere Maschinengewehre und mobile Granatwerfer. Die Russen nehmen keine Rücksicht auf Verluste.
Der eine, der dort liegt, ist bereits tot.Der hier kriecht noch weg. Der hier lebt noch, aber okay, wir bekommen sie zu fassen.Wo sind die anderen? – Auf der Strasse.Und der hier? Nein, der ist noch kampffähig, der schiesst noch.Und der da? Zoomen Sie näher heran. Schiesst er noch? Oder ruht er sich bereits aus? Kann ich nicht sehen.Sieh dir seine Stellung an. Er sieht nicht aus, als sei er tot, er liegt nur da und wartet. Aber er lebt, kein Zweifel.Es erstaunt, dass die Russen ohne kugelsichere Westen oder Helme angreifen. Es scheint evident, dass dies keine effektive Taktik sein kann. Sie tun es, weil jedes Kilogramm Gewicht am Körper zählt. Wenn man eine acht bis fünfzehn Kilogramm schwere Schutzweste und einen Helm trägt, bedeutet das zusätzliche Einschränkungen. Westen und Helme schränken die Beweglichkeit ein. Da scheint es besser, stattdessen mehr Waffen mitzunehmen. Hinzu kommt, dass die Temperatur in Soledar immer unter null liegt. Es ist sehr kalt: In der Nacht kann die Temperatur auf minus achtzehn Grad fallen. Es liegt nahe, mehr Kleidung anzuziehen und auf ein Metallteil zu verzichten, in dem man sich nicht so gut bewegen kann.
Es ist gelaufen, Jungs, wir haben sie zurückgeschlagen. Es ist vorbei. Sie rennen weg, aber nur vier von zwanzig. Hier ist der fünfte, der sechste. Seht, wie schnell sie rennen!Fünfundvierzigste kommt näher heran. Möchte das Feuer eröffnen.Das sind noch drei. Ja, dieser Körper bewegt sich nicht mehr. Sitzt er noch? Nein, liegt schon.Ukrainische Soldaten berichten vom Schlachtfeld über ihren Eindruck, dass der Feind unter dem Einfluss von Drogen stehen muss, denn selbst schwer verwundete Kämpfer kriechen weiter und versuchen, ukrainische Stellungen anzugreifen. Das kann stimmen, muss aber nicht. Die Russen behaupten dasselbe über unsere Soldaten. Was heisst, dass die Männer beider Seiten weiterkämpfen, selbst wenn ihre Wunden tödlich sind und sie wissen, dass sie sterben werden.
Nein, wir haben den Angriff abgewehrt, sie sind geflohen, fragt sich nur, wohin.Wow, diese Sprinter, schau mal, wie schnell sie wegrennen! Zoomt näher heran. Jetzt die Artillerie.Lauft, ihr Kanaillen, lauft!Versuchen sich im Gehölz zu verstecken. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Wir haben sie.Du folgst ihnen einfach, und dann erledigt die Artillerie den Rest.Sie rennen alle in einer Gruppe weg, ihr müsst genau dort schiessen.Würmer sind sie, nur Würmer.Wohl mehrere hundert Russen sterben jede Nacht. Da die Angriffe in den vergangenen zehn Tagen in Wellen fortgesetzt wurden, sind in Soledar bereits mehrere tausend russische Soldaten und Söldner gefallen.
Die Russen erzählen einander von einem Netz unterirdischer Festungen unter Soledar und Bachmut, in denen sich massenhaft Kampfkräfte versteckten, und von Panzern und Schützenpanzern, die dort bereitstünden. Angeblich sollen in den Tunneln seit dem Ersten Weltkrieg Waffen gelagert worden sein.
All dies ist blanker Unsinn.
Da das Belüftungssystem abgeschaltet ist, gibt es in den Minen keinen Sauerstoff mehr, was bedeutet, dass sich dort Menschen nicht länger aufhalten können. Schwere Fahrzeuge können nicht in die Stollen gelangen, es sei denn, sie werden in kleine Teile zerlegt.
Eine vierzig Meter hohe Kuppel einer majestätischen Salzkirche, eine wundertätige Madonna, welche die Menschen unter Tag beschützt, ein Salzfreizeitpark mit einem Fussball- und einem Volleyballplatz sowie einem Spielkasten für Kinder mit Plastikschaufeln, die aus dem Salz herausragen – das ist alles, was in den Minen übrig geblieben ist. All das ruht derzeit in kosmischer Stille und undurchdringlicher Dunkelheit.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. In der NZZ sind im Laufe des Frühjahrs 71 und im Laufe des Sommers 69 «Notizen aus dem Krieg» erschienen. Der erste Teil liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 118. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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