«Wann werden sie endlich alle verrecken?», stöhnt die alte Frau. Jetzt
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«Wann werden sie endlich alle verrecken?», stöhnt die alte Frau. Jetzt erst, nach zehn Monaten Krieg, werden die letzten Pro-Putin-Omas zu ukrainischen Patrioten «Wann werden sie endlich alle verrecken?», stöhnt die alte Frau. Jetzt erst, nach zehn Monaten Krieg, werden die letzten Pro-Putin-Omas zu ukrainischen Patrioten
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

Der tödliche russische Beschuss hat bis heute nicht aufgehört. Innenstadt von Charkiw, Juni 2022.
Carol Guzy / Imago 14 Januar 2023 Am Nachmittag explodieren wieder einmal «Raketen des Guten» auf den Strassen von Charkiw. Mein Computermonitor blinkt, und ein paar Sekunden lang kann ich es nicht glauben, dann erlischt das orangefarbene Glühen der elektrischen Heizung. Die Handys funktionieren nicht, und aus den Wasserhähnen fliesst kein Wasser mehr. Die Heizkörper der Zentralheizung erkalten, wie immer. Ich hatte also recht mit dem neuen russischen Kommandeur. Er ist so berechenbar wie ein schlechter Witz. Er hat überhaupt keine Phantasie.
Ich ziehe mir Wintersachen an und mache mich bereit für einen Spaziergang. Vor einer Viertelstunde ist Lena hinausgegangen, um die Blumen in der leeren Wohnung zu giessen, um die wir uns kümmern, seit die Besitzer ausgezogen sind. Sie muss mit dem Lift in den zwölften Stock gefahren sein, und nach meinen Berechnungen könnte sie sich zum Zeitpunkt des Einschlags noch in der Aufzugskabine befunden haben. Sie könnte stecken geblieben sein.
Als ich die Tür abschliesse, höre ich Stimmen im Treppenhaus. Zwei kleine Mädchen singen

Mykola Leontovych - Shchedryk, shchedryk (original ukrainian version of Carol of the Bells)
vonOleksiy SukhonosamYouTube oder «Eine kleine Schwalbe» von Mikola Leontowitsch, das wohl berühmteste ukrainische Lied. «Schtschedrik» sollte in der Nacht zum 13. Januar gesungen werden, dem Silvesterabend im julianischen Kalender, den wir als altes Neujahr bezeichnen, also sind die Mädchen ein bisschen spät dran. Aber sie singen eifrig, und die Melodie ist mehr oder weniger erkennbar, so dass sie ihren Anteil an Süssigkeiten gewiss bekommen.
Beim Hinausgehen wird mir klar, warum sie erst heute «Schtschedrik» gesungen haben. Die Kinder konnten gestern einfach nicht reinkommen. Aber da der Strom jetzt fehlt, funktionieren alle Magnetschlösser an den Eingängen nicht.
Ich eile zu dem nahen Gebäude, in dem Lena vielleicht im Aufzug festsitzt. Da steht ein Trolleybus tot und leer, er ist mitten auf der Strasse zum Stehen gekommen. Innen glimmt schwach noch Licht.
Ich beginne, die Treppe in den zwölften Stock hinaufzusteigen. Auf halber Höhe treffe ich auf eine alte Frau, die stehen geblieben ist, um zu verschnaufen.
«Wann werden sie endlich alle verrecken?», stöhnt sie.
Sie spricht von den Russen, die Charkiw angreifen. Jetzt, zehn Monate nach Beginn des Krieges, werden die letzten ukrainischen Pro-Putin-Omas zu Patrioten.
Traurigerweise werden sie nicht so bald sterben.
Im zwölften Stock breitet sich vor mir bis zum Horizont das Panorama der sich verdunkelnden Stadt aus, aber ich sehe kein einziges Licht. Ich hämmere an die Lifttür und lausche, ob jemand da ist, aber von innen antwortet niemand. Das Gleiche tue ich in anderen Etagen und stelle fest, dass zum Glück niemand im Aufzug festsitzt.
Als Lena heimkommt, erzählt sie mir, dass sie zum Zeitpunkt des Raketenangriffs nach dem Blumengiessen den Aufzug gerade betreten wollte. Sie hatte die Explosion nicht gehört, hatte aber das Glück, auf den Bildschirm ihres Smartphones zu schauen und zu warten, bis das Bild geladen war. Das aber dauerte zu lange, weil das Internet zu diesem Zeitpunkt bereits ausgefallen war. Zuerst habe sie gar nicht verstanden, was los gewesen sei.
Die Tür des Aufzugs öffnete sich nicht vor ihr, und sie begann, die Treppe hinunterzusteigen. Draussen wollte sie den Trolleybus nehmen, sah aber, dass er leer war, und dann verstand sie die ganze Situation.
«Kannst du dir vorstellen, dass sie uns umbringen wollen?», fragt sie mich. «Dass sie uns tatsächlich umbringen – und die ganze Welt sieht in aller Ruhe zu?»
Wir haben eine USB-Lampe an eine Powerbank angeschlossen und sie nach oben an die Decke gerichtet. Wir kochen gerade Tee, und der Dampf steigt auf, gemütlich wirbelnd im Lichtkegel der Lampe. Dann heizen wir einen grossen Topf mit Wasser auf, das wir normalerweise in Flaschen in einer leeren Nachbarwohnung aufbewahren.
Wenn das Wasser zu kochen beginnt, stellen wir den Topf auf den Wohnzimmertisch und umwickeln ihn mit einem Handtuch. Das ist eine selbst gebaute Heizung für unsere Katzen. Wenn sie keine solche hätten, könnten sie sich erkälten, denn die Luft in der Wohnung ist eiskalt. Doch die Katzen haben es lieber, wenn unsere Körper sie wärmen. Sie schmiegen sich an uns und schnurren, wobei sie aufrichtig so tun, als ob sie uns vor allem an Samstagen besonders gern hätten.
«Selbst das haben sie verbockt», sagt Lena über die Russen. «Wenn sie uns erfrieren lassen wollten, hätten sie es letzte Woche tun sollen, als es richtig kalt war. Eines Tages werden sie vor Gericht aussagen, dass sie mit den Raketen absichtlich auf wärmeres Wetter gewartet hätten.»
Ich habe absolut keinen Zweifel daran, dass sie sich eines Tages vor Gericht darauf berufen werden.
Unsere Telefone funktionieren immer noch nicht. Die letzte Nachricht, die uns erreichte, war etwas über eine Tragödie in Dnipro, bei der wahrscheinlich zahlreiche Menschen getötet wurden. Wir kennen keine Details, aber wir sind sicher, dass etwas Schlimmes passiert ist.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. In der NZZ sind im Laufe des Frühjahrs 71 und im Laufe des Sommers 69 «Notizen aus dem Krieg» erschienen. Der erste Teil liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 119. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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