SERIE - Das Einzige, was bei der ganzen Plünderei vergessenging, ist ein kleiner geblümter Kochtopf mit einem Henkel Das Einzige, was bei der ganzen Plünderei vergessenging, ist ein kleiner geblümter Kochtopf mit einem Henkel
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

«Es geschah dies am helllichten Tag. Nur die Wände liessen sie zurück.» – Trostjanez im Oblast Sumi, März 2022.
Roman Pilipey / EPA
- Januar 2023
Es gibt ein Video, in dem ukrainische Omas von einem Soldaten der Russischen Föderation berichten, der zum ersten Mal in seinem Leben in einem ukrainischen Haus eine Toilettenschüssel gesehen hat. Die Omas beschreiben ihn als jemanden mit schmalen Augen. Sie ziehen sogar die Haut neben Augen mit den Fingern zurück, um dem Mann gleichzusehen. Es sieht nicht so aus, als ob sie lügen würden. Wahrscheinlich ist der Kerl, den sie zu beschreiben versuchen, ein Burjate. Er kommt ins Haus, sieht die Toilettenschüssel und fragt: «Was ist das?» Jemand im Haus antwortet ihm: «Das ist eine Toilettenschüssel.» «Was ist eine Toilettenschüssel? Wozu ist sie da?», fragt der Soldat.
«Wir benutzen sie, um uns zu entleeren», sagt jemand.
Der Soldat ist angewidert. «Was? Ihr scheisst im Haus?», fragt er.
Dieses eine Video hat zu einer masslosen Verallgemeinerung geführt. Die Medien begannen russische Soldaten als gierige Idioten zu beschreiben, die ein so erbärmliches Leben führen, dass sie noch nie eine Toilette gesehen haben. Mittlerweile wird uns oft erzählt, dass Toilettenschüsseln zu den beliebtesten Trophäen gehören, die Russen mit nach Hause nehmen. In Wirklichkeit sind russische Soldaten gar nicht besonders darauf erpicht, Toilettenschüsseln zu klauen. Sie stehlen einfach alles, was ihnen in die Hände kommt, manchmal auch Toilettenschüsseln, und lassen die Häuser geplündert zurück.
Man weiss, dass sie gestopfte Socken, Duschgels, Shampoos, Damenbinden und Tampons gestohlen haben. Ich glaube, sie haben das nicht nur aus primitiver Gier getan, sondern weil die Versorgung selbst mit dem Nötigsten in der russischen Armee wirklich schlecht ist. Wenn du statt Socken Gamaschen bekommen hast und deswegen Blasen an den Füssen hast, wirst du Socken klauen. Wenn dir keine Seife zum Waschen zur Verfügung steht, stiehlst du Shampoo. Und natürlich lässt du Tampons mitlaufen, weil man dir gesagt hat, dass sie sich wunderbar eignen, um Schusswunden zu stopfen und die Blutung zu stoppen.
Ein weiteres falsches Bild von einem russischen Soldaten ist das eines sehr armen Menschen, der Warmwasser, Toiletten und gut mit Lebensmitteln gefüllte Kühlschränke als beispiellosen Luxus betrachtet. In Wirklichkeit haben die Russen ihre Plünderungen immer in den Häusern und Villen der Wohlhabenden begonnen, und in der Tat waren sie oft schockiert über die Art und Weise, wie die Menschen dort lebten. Wer wäre das nicht? Die Mittelschicht in der ukrainischen Gesellschaft ist unterentwickelt; die Armen hier sind wirklich arm, und die Reichen sind sehr reich, manchmal unanständig reich.
Die Russen, die in Zirkuni geblieben sind, haben sich zunächst mehr oder weniger anständig verhalten. Sie folterten niemanden, vergewaltigten nicht, schossen nicht absichtlich auf Menschen. Sie nannten sich Befreier und erklärten den Einheimischen, dass sie gekommen seien, um für immer zu bleiben.
Damit die Leute nicht eine Minute an ihren Worten zweifelten, nahmen sie den Leuten die Handys weg. In einem anderen Dorf nördlich von Zirkuni setzten sie sogar eine demonstrative «Hinrichtung» von Handys in Szene, indem sie diese an einen Baum nagelten. Keiner durfte News erfahren. Das war in gewisser Weise beruhigend. Eben darum glaubten die Menschen den Russen nicht, auch wenn sie ständig behaupteten, sie seien für immer gekommen.
Als die Russen begannen, Zirkuni zu plündern, waren sie zunächst etwas schüchtern. Doch sie konnten der Versuchung nicht widerstehen, als sie sahen, dass die Besitzer der meisten Häuser nicht mehr da waren. Zunächst drangen sie nachts ein und nahmen nur die wertvollsten Dinge und die Dinge mit, die sie dringend benötigten, wie Seife, Shampoo oder Tampons. Dann wurden sie immer dreister. Schliesslich fuhren sie mit Lastwagen bei den verlassenen Häusern vor und beluden sie mit allem, was sie darin fanden, einschliesslich Löffel, Gabeln und Bratpfannen. Es geschah dies am helllichten Tag. Nur die Wände liessen sie zurück.
Ich stehe vor einem weissen Backsteinhaus in der Kirow-Strasse. Das Dach ist eingestürzt, aber die stabilen Wände wirken unbeschädigt. Am Tor sehe ich ein schönes Metallschild mit dem eingravierten Namen des Eigentümers. Die Eingangstür ist zertrümmert, und das Haus liegt offen da. Das Innere ist schmutzig. An der gegenüberliegenden Wand gibt es ein Fenster, das ebenfalls zerbrochen ist. Das Gebäude ist leer: keine Möbel, keine Teppiche, keine Kleider, keine Bilder an den Wänden, keine Bücher, kein Spielzeug, nichts.
Das Einzige, was vergessenging, ist ein kleiner geblümter Kochtopf mit einem Henkel. Er muss den Russen vom Lastwagen runtergefallen sein.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. In der NZZ sind im Laufe des Frühjahrs 71 und im Laufe des Sommers 69 «Notizen aus dem Krieg» erschienen. Der erste Teil liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 111. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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