SERIE - Der Prozess hat begonnen: Die ersten Gewaltverbrecher kehren in ihre Heimat zurück Der Prozess hat begonnen: Die ersten Gewaltverbrecher kehren in ihre Heimat zurück
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

Sergei Mironow, der Vorsitzende der scheinbaren Oppositionspartei «Gerechtes Russland – Für die Wahrheit», hält den Vorschlaghammer offensichtlich für ein schlagendes Argument.
Sergei Mironov / Reuters
- Januar 2023
Was Gewalt und Erpressung angeht, sind Kriminelle immer effizienter als der Staat. Daher ist man staatlicherseits oft versucht, deren Dienste in Anspruch zu nehmen. Vor allem, wenn es um das angebliche Gemeinwohl geht.
In der Ukraine wurden Kriminelle, die auf der Gehaltsliste des Staates standen, früher Tituschkas genannt. Manche sagen, dass die Idee der Tituschkas erstmals in Charkiw aufgekommen sei, als es darum ging, während der Bürgermeisterwahlen Chaos und Verwirrung zu stiften oder eine neue Strasse durch den Park zu legen, die kein Mensch da haben wollte.
Ich erinnere mich daran, wie die Bauarbeiten für eine Strasse durch einen der Parks von Charkiw anstanden. Zahlreiche Leute versammelten sich, um dies zu verhindern. Ihre Augen leuchteten vor Hoffnung, sie waren beseelt von freundlichem Ungehorsam und anderen aufrührerischen Gefühlen. Sie hängten «Ich will leben»-Plakate an die Bäume, kletterten die Äste hoch oder ketteten sich an die Stämme.
Doch die Stadtverwaltung organisierte kräftige Männer, kleidete sie in schwarze Hemden und liess diesen Schlägertrupp auf die Demonstranten los. Wie üblich begannen sie ihren Angriff um vier Uhr morgens, der Lieblingszeit des Bösen. Als ich um neun Uhr vor Ort ankam, war die Schlacht bereits verloren. Einem Freund von mir war eine Rippe gebrochen worden. Die Demonstranten hatten sich zerstreut. Holzfäller waren dabei, Bäume umzulegen, ohne sich um das Protestgeschrei derer zu kümmern, die sich oben in den Ästen angekettet hatten.
Die Schwarzhemd-Leute sahen alle gleich aus: breite Schultern, runde Gesichter, kurzgeschorene Köpfe und schwere Stirnen, die wirkten, als wären sie aus Kopfsteinpflaster gehauen.
Kurz, sie sahen aus wie Zwillingsbrüder von Dmitri Karjagin, dem Russen, der 2014 seine 87-jährige Grossmutter überredete, ihm eine Wohnung zu verkaufen, sie dann mit einem Hammer erschlug und allen erzählte, sie sei in die Ukraine gezogen. Das Gefängnis blieb ihm nicht erspart, dann aber landete er an der Front in der Ukraine. Er wurde verwundet, erholte sich und kehrt nun nach Hause zurück, um andere Grossmütter in seiner Familie niederzuhämmern.
Apropos Hammer: Ich erinnere mich an das lange Interview mit Jewgeni Nuschin, einem Überläufer, der Russland in Richtung Ukraine verlassen hatte und später, als er wieder auf russischem Boden war, öffentlich mit einem Vorschlaghammer ermordet wurde, zur Warnung für andere.
Während des Interviews sagte Nuschin, er sei einzig und allein an die Front gegangen, um sich zu ergeben. Er beschrieb detailliert, wie er nachts in Richtung der ukrainischen Stellungen lief, bis er aufgegriffen wurde. Er machte den Eindruck, ein interessanter Mensch zu sein. Er wirkte mutig und klug, und er schien die Wahrheit zu sagen.
Später hat sich Nuschin angeblich bereit erklärt, an einem Gefangenenaustausch teilzunehmen, und ist nach Russland zurückgekehrt. Um dies zu tun, müsste er schon ein kompletter Idiot gewesen sein, aber er machte nicht den Eindruck. Nach einer anderen Version wurde er in Kiew auf offener Strasse entführt. Wie auch immer, sobald der wieder in Russland war, liess ihn Prigoschin, der Chef der russischen Privatarmee Wagner, aufgreifen und hinrichten. Den blutverschmierten Vorschlaghammer liess er an das Europäische Parlament schicken, um den Westen zu verarschen.
«Wir erklären das Europäische Parlament für per sofort aufgelöst», liess er mitteilen.
Dieser PR-Coup sollte die patriotischen Gefühle der russischen Sträflinge befeuern, aber Sträflinge besitzen keine patriotischen Gefühle, so dass die Aktion im Gegenteil ihre zarten Herzen verletzte. Sie begannen zu zweifeln, ob sie mit einem Hammer getötet werden wollten oder nicht, und weigerten sich, in die Armee einzutreten. Daher musste Prigoschin einen anderen PR-Coup landen.
Er rief einige der Verbrecher in seiner Truppe zusammen und verkündete ihnen, dass sie ihre Verbrechen bereits mit ihrem Blut gesühnt hätten und nun ehrenvoll und mit einem Orden auf der Brust nach Hause gehen könnten. In seiner Dankesrede, deren verführerische Töne er wie ein Schlangenbeschwörer beherrscht, vermittelte er ihnen seine Lebensphilosophie: nicht zu viel zu trinken, auf Drogen zu verzichten und keine Frauen zu vergewaltigen, Sex gebe es nur für Geld oder Liebe.
Der Prozess hat also begonnen: Die ersten Gewaltverbrecher kehren in ihre russische Heimat zurück.
Jeder von ihnen kann eine Tapferkeitsmedaille vorweisen und darf ohne Prüfung an einer renommierten Universität studieren. Die meisten von ihnen landen bald wieder im Gefängnis oder werden Tituschkas im Dienste des Staates, bereit, alles zu tun, was man ihnen befiehlt, zum Beispiel Journalisten mit dem Hammer hinzurichten. Der Hammer als Symbol von Bedrohung und Hinrichtung ist in Russland bereits zu einem beliebten Meme geworden.
Vielleicht aber werden manche der freigelassenen Kriminellen zu Geschäftsleuten, Abgeordneten, Ministern, Gouverneuren oder so. Dann sollte sich die gesamte zivilisierte Welt besser von Russland abschotten, etwa durch eine Mauer mit aufgerolltem Stacheldraht, der unter Hochspannung steht. Und das eingekerkerte russische Volk wird mit Tränen in den Augen Puschkin lesen und sich an den Krieg, die Mobilmachung und die Schrecken der Putinschen Herrschaft als die beste Zeit seines Lebens erinnern.
Niemandem aber wird es erlaubt sein, sich hinauszuschleichen.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. In der NZZ sind im Laufe des Frühjahrs 71 und im Laufe des Sommers 69 «Notizen aus dem Krieg» erschienen. Der erste Teil liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 116. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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