SERIE - Die neu rekrutierten russischen Soldaten sind so isoliert wie junge Stiere in einem Lastwagen, der zum Schlachthof fährt Die neu rekrutierten russischen Soldaten sind so isoliert wie junge Stiere in einem Lastwagen, der zum Schlachthof fährt
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

Ukrainische Soldaten verladen Leichensäcke mit toten Russen in einen Kühltransporter, Mai 2022.
Valentyn Ogirenko / Reuters
- Januar 2023
Ein paar Tage vor Beginn der russischen Invasion sprach ich mit meinen Freunden darüber, ob ein Krieg möglich sei oder nicht und was passieren würde, wenn die Russen sich tatsächlich zum Angriff entschliessen würden. Ich war mir sicher, dass der Krieg, wenn es denn einen geben würde, schnell zu Ende sein würde, nachdem die ersten 30 000 oder 40 000 Russen in schwarzen Plastiksäcken nach Hause gereist sein würden.
30 000 oder 40 000, sagte ich. Selbst in dem Moment, als ich das sagte, empfand ich es als Übertreibung. Schliesslich waren in den zehn Jahren Afghanistankrieg nur 15 000 Russen ums Leben gekommen, und der Konflikt brach unter seinem eigenen Gewicht zusammen.
Sechs oder sieben Monate später, als 50 000 Russen bereits in Kühlcontainern nach Hause transportiert, Stück für Stück eingesammelt und in irgendwelchen gottverlassenen Löchern vergraben oder einfach auf dem Schlachtfeld zum Verrotten zurückgelassen worden waren, beschloss Putin, für Russland eine Teilmobilmachung auszurufen. Einige ukrainische Experten haben damals gelacht.
«Soll er es doch versuchen», meinten sie, «das wäre das beste Geschenk, das die Ukraine bekommen kann. Die Russen werden eine Revolution anzetteln und das Regime hinwegfegen.»
Als Putin diese Teilmobilisierung in die Tat umsetzte, flohen die mutigsten russischen Oppositionellen, eine ganze Million, aus Russland und überquerten die Grenze, wo auch immer es möglich war. Das war das Revolutionärste, was sie tun konnten.
Jede Revolution erfordert das gemeinsame Handeln einer grossen Masse von Menschen, aber die Menschen, die im modernen Russland leben, trauen einander nicht. Sie sind so isoliert wie junge Stiere in einem Lastwagen, der zum Schlachthof fährt: Sie stehen eng beieinander, Schulter an Schulter; sie sind viele, und jeder von ihnen ist körperlich stärker als der, den er töten wird, aber alle sind sie allein und geben im Angesicht des Todes ein letztes verlorenes Muhen von sich.
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir ein Lastwagenfahrer erzählt hat. Er war mit einem Lkw voller Gefrierfleisch unterwegs, als russische Soldaten ihn anhielten und ihm befahlen, das Fleisch auszuladen. Dann zwangen sie ihn, den Lkw mit schwarzen Leichensäcken aus Plastik zu befüllen. Einige der Leichen befanden sich bereits in Auflösung, und die Säcke leckten. Er war wütend und versuchte zu protestieren, weil der Lastwagen, der von diesem Tag an nach Tod stinken würde, nicht mehr für den Transport von Lebensmitteln geeignet wäre, aber sie richteten einfach ein Schnellfeuergewehr auf ihn.
Jetzt, da schätzungsweise 112 000 Russen in der Ukraine den Tod gefunden haben, wird deutlich, dass keine noch so mit Leichensäcken vollgestopften Kühlwagen etwas an der Situation ändern werden. Die menschlichen Ressourcen, die Russland ins Verderben schicken kann, sind unbegrenzt.
Lange Zeit haben wir gehofft, dass Putin bald stirbt und der Krieg dann sogleich aufhört, denn seine verrückten Wünsche sind der Haupttreiber dieses Kampfes. Aber während der langen Kriegsmonate sind in Russland neue Super-Putins aufgetaucht, so wie sich eine bakterielle Superinfektion nach einer längeren Behandlung mit unzureichend verschriebenen Antibiotika entwickeln kann. Die westlichen Waffen, die hier heilend wirken könnten, wurden immer in unzureichender Menge verabreicht, so dass die Beseitigung von Putin als Auslöser der Infektion jetzt nicht helfen wird.
Die ukrainischen Militärexperten haben ihren Ton geändert. Sie sagen jetzt, dass wir wieder in die Defensive gehen sollen, dann auf neue Waffen warten müssen, dann eine neue Offensive zu stoppen haben, wenn die Russen wieder grosse Städte wie Kiew und Charkiw angreifen, und dann eine neue Gegenoffensive bevorsteht und so weiter. Im besten Fall wird das Monate dauern. Oder Jahre.
Dieser Plan hat einen schwerwiegenden Nachteil: Niemand wird uns eine ausreichende Zahl von Waffen geben, seien wir ehrlich, niemals. Wir müssen das mit Heldentum, Selbstaufopferung und Tausenden von Toten kompensieren.
Aber es gibt noch ein grundlegenderes Problem: Keine Zahl von Waffen kann über die unbegrenzten menschlichen Ressourcen obsiegen, die vom Kreml in einem endlosen, kontinuierlichen Strom an die Front geschickt werden.
Das Licht am Ende des Tunnels wird immer schwächer, schimmert aber nach wie vor. Jeden Tag werden in Russland etwa fünfzig Deserteure gefasst. Mindestens ebenso viele junge Männer tauchen unter. Tausende von ihnen verstecken sich irgendwo in den weiten russischen Wäldern und Sümpfen, in unzähligen Städten und Dörfern. Auf Dachböden, in Schuppen, Verschlägen und Wurzelkellern, in Garagen und geräumigen Kleiderschränken von Grossmüttern. Sie sind bewaffnet und haben nichts zu verlieren. Viele von ihnen sind Räuber, Mörder und Einbrecher, weil jemand beschlossen hat, dass Räuber, Mörder und Einbrecher wunderbare Soldaten sind.
Tausende von einsamen Stieren wurden zum Schlachthof geschickt, konnten aber entkommen und mutierten zu einsamen Wölfen. Keine noch so grosse Zahl von Putins oder Super-Putins wird jemals in der Lage sein, mit ihnen fertigzuwerden. Auf lange Sicht wird kein Land jemals einem endlosen, schwärenden Strom verzweifelter Menschen standhalten können, die wissen, wie man kämpft und tötet.
Wir Ukrainer aber sollten versuchen, auf dem blutigen Marathon des Krieges nicht zusammenzubrechen.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. In der NZZ sind im Laufe des Frühjahrs 71 und im Laufe des Sommers 69 «Notizen aus dem Krieg» erschienen. Der erste Teil liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 114. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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