Russische Raketen töten nicht nur, wenn sie einem auf den Kopf fallen.
Jüngst hörte das Herz zwei...
SERIE - Russische Raketen töten nicht nur, wenn sie einem auf den Kopf fallen. Jüngst hörte das Herz zweier kleiner Kinder vor Schreck auf zu schlagen Russische Raketen töten nicht nur, wenn sie einem auf den Kopf fallen. Jüngst hörte das Herz zweier kleiner Kinder vor Schreck auf zu schlagen
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

Ein Anblick, der jeden patriotischen Russen erfreuen muss. – Küche in einem bombardierten Wohnblock in Dnipro. Der Vater der Familie kam beim Raketenangriff um. Insgesamt gab es rund vierzig Tote.
Yan Dobronosov / Reuters
- Januar 2023
Die Menschen, die im ukrainischen Dnipro getötet wurden, sind der russischen Welt nur einen kleinen Schritt vorangegangen. Hier wurden Leben zerquetscht wie Grashalme.
Die Explosion hat zweiundsiebzig Wohnungen wie mit einem scharfen Messer vom Appartementblock abgetrennt. Der mittlere Teil des Gebäudes stürzte ein und verwandelte sich in einen Hügel aus rauchendem Beton, unter dem bis zu zweihundert Menschen begraben wurden. Die Russen finden das wunderbar. Sie sagen, sie könnten darüber nichts als glücklich sein. Sie gehen überall mit der Angst hausieren, zeigen Bilder aus Mariupol und versprechen, dasselbe mit jeder ukrainischen Stadt zu tun, also auch mit Charkiw und Kiew. Das Wohnhaus in Dnipro ist in ihren Augen nur ein winziger Teil der grossen Statistik, die belegt, wie siegreich die russische Welt vorwärtsmarschiert.
Jede grosse Tragödie besteht aus kleineren Tragödien. Heute lesen, hören und sehen wir in den Nachrichten von Menschen, die auf wundersame Weise gerettet worden sind, von Menschen, die noch immer am Leben sind, und von Menschen, denen dieses Glück nicht zuteilwurde.
Hier ist ein Mädchen, das unversehrt aussieht; es steckt zwischen zerfetzten und eingestürzten Wänden fest, irgendwo auf der Höhe des fünften Stocks. Wenn es heil da herauskommt, wird das Mädchen auf einer Social-Media-Seite schreiben, dass es seine Katze und seine Eltern verloren habe, wobei es zuerst das Tier und erst dann Vater und Mutter erwähnt.
Hier ist ein gerettetes Kätzchen, das in einer so halsbrecherischen Position auf einem Mauervorsprung sass, dass es unmöglich schien, dass es nicht herunterfällt.
Hier ist eine leuchtend gelbe Küche, von der nur noch drei Wände übrig geblieben sind und deren Tisch über den Rand des Abgrunds ragt. Die Explosion warf einen Plastikbehälter um, aber die auf dem Tisch gestapelten Äpfel blieben unverstreut.
Diese Küche ist alles, was von der Wohnung übrig geblieben ist, in der ein Mann namens Mikhail mit seiner Familie lebte. Er hatte drei Töchter, blonde junge Mädchen, und
es gibt ein Video, in dem wir ihn lebend sehen können, in derselben hellgelben Küche. Wir sehen die ganze Familie, wie sie den Geburtstag einer Tochter feiert. Vor uns steht der Geburtstagskuchen, und wir erleben mit, wie ein glückliches junges Mädchen mit Pausbacken vier Geburtstagskerzen auf dem Kuchen auspustet. Es muss vier Mal ansetzen, um alle Kerzen auszublasen. Wir stehen am selben Tisch, der jetzt über dem rauchenden Abgrund thront.
Freilich zeigt das: Was in Dnipro geschah, ist nicht das ganze Bild. Russische Raketen töten nicht nur, wenn sie einem auf den Kopf fallen. Vor nicht allzu langer Zeit starben zwei kleine Kinder vor Schreck: ein sechsjähriges Mädchen und ein dreijähriger Junge. Ihre kleinen Herzen blieben einfach stehen, überwältigt von dem Horror des Krieges. Und wer zählt und weiss schon, wie viele Herzen von Erwachsenen und älteren Menschen die russische Welt zum Stillstehen gebracht hat?
Einer meiner Facebook-Freunde schreibt, was er für den letzten Text seines Lebens hält. Er teilt mir mit, dass sein altes, durch Thrombose verschlissenes Herz langsam und sehr schmerzhaft ausbrenne. Tabletten helfen nicht mehr. In der Stadt gibt es weder Strom noch Mobilfunkverbindung. Er kann nicht um Hilfe rufen und beschliesst, dass er genug gelebt hat.
Die Herzklinik liegt weit vom Zentrum entfernt, dafür aber sehr praktisch in der Nähe einer Leichenhalle, einer Kirche und eines Friedhofs für Tuberkulosekranke, die nicht von ihren Angehörigen betreut werden konnten.
Er schreibt, dass seine Frau im Nebenzimmer hinter der geschlossenen Tür eine Art Operette höre. Er beschliesst, sie nicht zu stören, denn so oder so wird sie zwei Stunden später hereinkommen und von allein bemerken, was passiert ist. Er will nicht mehr leben, weil heute jemand geschrieben hat, dass der Krieg auch 2023 noch nicht zu Ende sein werde.
Seine Frau postet später eine Nachricht, in der sie mitteilt, dass die Ärzte ihn im allerletzten Moment wieder zum Leben hätten erwecken können. Sie hofft, dass er morgen wieder sprechen kann.
Sie hatte einen Arzt gerufen, und als dieser eintraf, fragte er als Erstes nach den Ausweispapieren des Patienten. Als er sah, dass dessen Name Iwanow lautete (der russischste Nachname, den man sich vorstellen kann) und er in Russland geboren war, fragte er ihn sofort: «Wem gehört die Krim?»
Als dem Arzt gesagt wurde, dass der Patient nicht sprechen könne, bat er um zwanzig Hrywna. Er sagte, er brauche Geld, um eine Kerze in einer Kirche anzuzünden.
Die Frage nach der Krim ist ein Prüfstein, mit dem man einen ukrainischen Patrioten von einem Putinophilen unterscheiden kann. Ein Putinophiler wird selbstverständlich antworten, dass die Krim ein Teil von Russland sei, oder er wird etwas Unverständliches murmeln, und später wird er sich selber Vorwürfe machen, dass er darum unter Qualen an einer Koronarthrombose sterben muss.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 120. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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