SERIE - «Herr, beschütze das heilige Russland», steht auf einem alten Metallkreuz an der Landstrasse – das ist heute ein blasphemischer Witz «Herr, beschütze das heilige Russland», steht auf einem alten Metallkreuz an der Landstrasse – das ist heute ein blasphemischer Witz
Sergei Gerasimow harrt in Charkiw aus. In seinem Kriegstagebuch berichtet der ukrainische Schriftsteller über den schrecklichen, auch absurden Alltag in einer Stadt, die noch immer beschossen wird.

Von russischem Granatfeuer zerstörte Kirche in Sewerodonezk, Februar 2023.
Evgeny Biyatov /Imago 17. Januar 2023
Ich stehe am Fusse eines hohen Metallkreuzes. Die Inschrift darauf lautet: «Herr, beschütze das heilige Russland, die Festung der Orthodoxie.» Das Kreuz ist fünf oder sechs Meter hoch, braun gestrichen und von kleinen Löchern durchbohrt, die von Granatsplittern stammen. Die Durchschläge sind von hervorstehenden Zähnen umgeben, als ob das Metall im Moment des Einschlags geschmolzen und verspritzt worden wäre, bevor es sich sofort wieder verfestigte. Sonst scheint das Kreuz unbeschädigt zu sein.
«Herr, beschütze das heilige Russland». Es ist erstaunlich, so etwas nur zwei oder drei Kilometer von Charkiw entfernt zu lesen, wo selbst ein argloses Puschkin-Denkmal den Lauf dieser Zeit nicht überleben konnte, nur weil Puschkin die Frechheit besass, auf Russisch zu sprechen und zu schreiben.
Einige der Häuser entlang der Vorstadtstrasse haben noch die alten farbigen Dächer aus Metallblech. Sie sind grün, rot, braun oder blau und über und über mit gelben Punkten übersät. Doch das ist nur Schaum aus dem Baumarkt, mit dem die Besitzer Hunderte von Schrapnell-Löchern gefüllt haben. Einige der Häuser sind ganz ohne Dächer da oder tragen nur noch hölzerne Dachskelette, bei denen einige Rippen gebrochen oder verbrannt sind. Andere Häuser sind zu Backsteinklumpen geworden, die wie verfaulte Zahnstümpfe aus der Erde ragen.
Ich laufe die Strasse entlang. Einige der niedergebrannten Häuser besitzen ausgebrannte Garagen, und in den ausgebrannten Garagen stehen bis in die Einzelteile verkohlte Autoleichen. Ich sehe abgeschlagene Betonmasten, in Teile gespaltene Baumstämme, zerfetzte Werbetafeln, deren Reste in Pfützen verrotten, und überall blinde Löcher, sprich glaslose Fenster, die mich anstarren.
Wie fühlt sich ein Mensch, wenn ihm ein Fenster direkt ins Gesicht explodiert? Ich habe so etwas noch nie erlebt, obwohl eines Tages nicht weit von mir ein Fenster in tausend Stücke zersprang. Ich hörte nur das dumpfe Geräusch des Knalls, das Glas erbebte und schälte sich aus dem Rahmen, dann presste sich mir die Luft, die mit einem Mal so dicht wie Butter oder Marmelade wurde, sanft ins Gesicht. Im nächsten Moment sah ich Glasscherben vor meinen Füssen liegen. Es war nicht einmal zum Fürchten, es war wie in einem Traum.
Tatsächlich ist es ganz anders, wenn eine echte Explosion das Fenster vor einem auslöscht. Man hat den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um zu erkennen, wie das Glas aufquillt wie eine Seifenblase, sich wie eine Meereswelle krümmt und wie eine Kristallzunge nach einem greift.
Gleichzeitig scheint es unmöglich, dass es diese Form annehmen kann, weil es ja immer hart, glatt und spröde war, aber dann sieht man, dass es sich nicht um Glas handelt, sondern um Tausende von Scherben, die auf der Oberfläche der Druckwelle gleiten, die unsichtbar ist, aber so dicht wie Beton. Jedes einzelne Stück dreht sich leicht in der Luft, blitzt mit dieser oder jener Kante auf, aber gleichzeitig fliegen sie alle wie ein einziges Stück. Und bevor du überhaupt merkst, was du siehst, hebt dich die Druckwelle hoch und schleudert dich wie eine Stoffpuppe an die gegenüberliegende Wand. Ein Mann aus Nord-Saltiwka hat das so wahrgenommen.
Wie fühlt man sich, wenn einem eine Backsteinmauer direkt ins Gesicht springt? Leider kenne ich niemanden, der das erlebt hat und seine Erfahrungen mit mir teilt. Und deshalb liest sich die Inschrift auf dem Kreuz, das stolz am Rande einer Vorstadtstrasse prangt, «Herr, beschütze das heilige Russland, die Hochburg der Orthodoxie», wie Blasphemie.
Aber eigentlich geht mich das nichts an; die Menschen, die hier leben, sollten sich damit befassen.
Am unteren Ende des Kreuzes befindet sich eine weitere Inschrift. Sie ist in Kirchenslawisch verfasst und bittet den Herrn darum, das Dorf, das dieses Kreuz errichtet hat, zu beschützen. Trotz der Tatsache, dass Gott allmächtig ist, scheint es mir, dass er ins Rotieren kommt, wenn er die beiden Inschriften liest und beschliesst, die Gebete der Menschen zu erhören – denn diese Bitten widersprechen einander. Er kann entweder das heilige Russland schützen oder dann das Dorf, in dem das heilige Russland kein einziges Gebäude unversehrt gelassen hat. Beides zugleich ist unmöglich.
Zur Person

PD
Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?
Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehören jene von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Sie vereinigen Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der erste Teil liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 121. Beitrag des dritten Teils.
Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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