[img=860x484]https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2021/03/kind_tablet_weltkarte-860x484.jpg[/img]Digitale Bildung wurde in Deutschland lange vernachlässigt. In der Corona-Krise soll sich das ändern, doch die Politik schafft neue Probleme, findet Julia Reda.
Edit Policy: Brockhaus-Deal – digitale Bildung versus Lebensrealität in DeutschlandDieser Beitrag von Julia Reda erschien zuerst in ihrer Kolumne auf heise.de und wurde dort unter der Lizenz CC BY 4.0 veröffentlicht.
Diese Entscheidung steht sinnbildlich für den Stand digitaler Bildung in Deutschland: Das Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen gibt 2,6 Millionen Euro für eine Dreijahreslizenz des Brockhaus Online-Nachschlagewerks aus. Das Paket digitaler Lernmittel umfasse neben der Online-Enzyklopädie ein Jugend- und Kinderlexikon sowie Online-Kursmaterial zum richtigen Recherchieren, gab das Ministerium
in einer Pressemitteilung bekannt.
Die Meldung hat vergangene Woche Spott und Unverständnis ausgelöst – Brockhaus schaffte es zeitweilig in die deutschen Twitter-Trends, der Wikimedia Deutschland e. V.
stellte die berechtigte Frage, warum die öffentliche Hand stattdessen nicht in freie Bildungsinhalte investiert, und die Landtagsfraktion der Grünen NRW stellt in mehreren kleinen Anfragen unter dem Titel „Digital lernen im Ledereinband“ kritische Fragen über den
tatsächlichen Bedarf an den Inhalten und das Vergabeverfahren.
Klar ist, Deutschland hat die digitale Bildung jahrelang vernachlässigt. Das fällt uns jetzt in der Coronakrise auf die Füße, die meisten Schulen waren auf eine plötzliche Umstellung auf Distanzunterricht nicht vorbereitet. Insofern ist es begrüßenswert, wenn die öffentliche Hand nun in digitale Bildung investiert. Es stellt sich jedoch die Frage, warum der Fokus nicht darauf liegt, die Vorteile digitaler Bildung zu nutzen, anstatt neue Probleme zu schaffen.
Verpasste Chancen der Digitalisierung
Einmal gekaufte Schulbücher auf Papier kann eine Schule so lange nutzen, bis sie altersbedingt auseinanderfallen oder die Informationen so veraltet sind, dass eine Neuauflage notwendig wird. Je nach Schulfach kann das deutlich länger als drei Jahre dauern.
Eigentlich sind digitale Bildungsinhalte hier in jeder Hinsicht im Vorteil, weil beliebig viele Kopien angelegt werden können, weil sie keine Gebrauchsspuren tragen und laufend aktualisiert werden können – die Wikipedia ist dafür das beste Beispiel und nicht erst seit Corona aus der Schulbildung nicht mehr wegzudenken.
Dauerhafte Abhängigkeit von Unternehmen
Durch zeitlich begrenzte Lizenzen für Bildungsinhalte begeben sich die Schulen in eine dauerhafte Abhängigkeit von Unternehmen. Dieses Problem ist
leider symptomatisch für die Bildungspolitik in der Coronakrise. Man stelle sich vor, Schulen würden Lehrbücher auf Papier nicht auf Dauer erwerben, sondern nur ausleihen: Nach Ablauf von drei Jahren müssten sie die Bücher zurückgeben oder vernichten, es sei denn, sie bezahlen erneut. Es ist offensichtlich, dass das Steuerverschwendung wäre, warum ist es also der Normalfall für öffentliche Investitionen in digitale Bildungsinhalte?
Vor diesem Hintergrund ist es absolut unverständlich, warum Bildungsministerin Gebauer (FDP) das knappe Geld für digitale Bildung lieber in zeitlich begrenzte Nutzungslizenzen steckt, nach deren Ablauf der öffentlichen Hand nichts von ihrer Investition bleibt. Womöglich hängt es damit zusammen, dass in Nordrhein-Westfalen in einem Jahr Landtagswahlen anstehen – wenn die Lizenz nach drei Jahren ausläuft und die Steuerverschwendung offensichtlich wird, ist dann wahrscheinlich eine andere Regierung zuständig.
Bedürfnisse der Lernenden
Die Wissenschaftler Leonhard Dobusch und Maximilian Heimstädt haben bereits vor Jahren in einer Studie
konkrete Empfehlungen an das Land NRW formuliert, um die digitale Bildung nachhaltig zu fördern. Dazu gehört allen voran eine Open Access-Klausel in Vergabeverfahren: Wenn die öffentliche Hand für digitale Bildungsinhalte bezahlt, sollen diese der Allgemeinheit zugänglich sein und beliebig modifiziert werden dürfen, um sie an die Bedürfnisse der Lernenden anpassen zu können.
Es geht nämlich bei Open Educational Resources (OER) bei Weitem nicht nur um den kostenlosen Zugang: Auch die Möglichkeit der Weiterentwicklung von Bildungsinhalten ist ein großer Vorteil der digitalen Medien gegenüber dem Buch – wenn dem keine restriktiven Lizenzbedingungen im Weg stehen. Diese Erkenntnis setzt sich in Deutschland jedoch nur sehr langsam durch. Die
im Koalitionsvertrag versprochene OER-Strategie der Bundesregierung steht im Wahljahr 2021 immer noch aus.
Kompetenzen statt Wissen
Schließlich stellt sich auch die Frage, welchen Zweck eine Online-Enzyklopädie in der Schulbildung genau erfüllt. Geht es in erster Linie darum, bloßes Wissen zu vermitteln, oder ist es nicht viel wichtiger, wie es in der Pressemitteilung des Bildungsministeriums NRW heißt, „effizienten und verantwortungsvollen Umgang mit Informationen, Daten und Medien“ zu lehren?
Weder die berufliche Laufbahn noch die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben lässt sich allein auf Grundlage des Wissens bestreiten, das Kinder und Jugendliche in der Schule erwerben. Lebenslanges Lernen nimmt in unserer Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle ein, deshalb ist eine der bedeutsamsten Aufgaben der Schule, die Befähigung zum selbständigen Recherchieren und Lernen zu vermitteln.
Wikipedia mit Vorsprung
Eine Enzyklopädie ist dabei immer nur der Ausgangspunkt einer Recherche. Kein Schulreferat wird gelingen, das komplett aus Informationen aus einer Enzyklopädie besteht. Die Verwendung von Nachschlagewerken in der Schulbildung dient also vor allem der Vermittlung von Kompetenzen, nicht von Fachwissen.
Schüler:innen werden durch die Arbeit mit Nachschlagewerken befähigt, sich selbst Wissen anzueignen und Informationen kritisch zu hinterfragen. Da ist es eher von Nachteil, ihnen Informationen aus einer Enzyklopädie als objektive Wahrheit zu präsentieren, denn natürlich passieren auch hier Fehler – egal, ob es um den Brockhaus oder die Wikipedia geht. Wichtig ist hingegen, dass die Nachschlagewerke mit umfassenden Quellenangaben versehen sind, die ihrerseits frei online verfügbar sind. Spätestens in diesem Punkt hat die Wikipedia gegenüber dem Brockhaus einen meilenweiten Vorsprung.
Wenn der Wert der Enzyklopädien in der Bildung primär in der Befähigung zum selbständigen Recherchieren liegt, warum will das Land NRW dann die Schüler:innen an die Verwendung eines Nachschlagewerks gewöhnen, das ihnen nach Ende ihrer Schullaufbahn nicht mehr zugänglich sein wird? Leonhard Dobusch
schlägt als Alternative zu dem Brockhaus-Deal Weiterbildungen zum „Richtig Recherchieren mit Wikipedia, YouTube & Co“ vor. Das mag für einige Bildungsbürger:innen wie ein Affront klingen, die in den Zugangshürden von Brockhaus und Co. ein Qualitätsmerkmal sehen.
Der Vorschlag hat aber durchaus Hand und Fuß. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schüler:innen die so erworbenen Fähigkeiten auch außerhalb der Schule anwenden und trainieren, ist wesentlich höher, wenn sie zur Lebensrealität der Zielgruppe passen.
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