[img=860x484]https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2021/05/schule_maske-860x484.jpg[/img]Mitten im Distanzunterricht erfahren hunderte Schulen in Baden-Württemberg, dass sie das Hochschul-Netz BelWü bald nicht mehr nutzen können. Im Streit um Datenschutz und Zuständigkeiten bleiben Schulen verunsichert zurück. Engagierte Lehrkräfte versuchen die Schul-IT zu schultern, doch verzweifeln an der Arbeitbelastung.
Schul-IT in Baden-Württemberg: Das große ChaosEigentlich ist David Baum* ein ganz normaler Lehrer an einem kleinen Gymnasium in Baden-Württemberg. Als vor einigen Jahren der damalige Netzbeauftragte der Schule in den Ruhestand ging, musste irgendjemand weitermachen. Baum interessierte sich für Technik, er übernahm den Job. Dann kam die Pandemie und damit die „unterirdischen Arbeitsbedingungen“, von denen Baum heute spricht.
Nach einem Jahr zwischen Distanz- und Präsenzunterricht schreiben seine Leistungskurse ihre Abiturprüfungen, die Schule muss Quarantänefälle koordinieren und Testverordnungen umsetzen. „Wir sind komplett am Anschlag, eigentlich schon darüber“, sagt Baum. Und dann kommt am Freitagmittag des 30. April eine E-Mail aus dem Kultusministerium an alle Netzwerkberater:innen der Schulen im Land. BelWü wird
seine Dienste für Schulen einstellen.
Die Abkürzung für „Baden Württembergs extended LAN“ bezeichnet das landesweite Hochschulnetz, das rund 2.000 Schulen im Südwesten Deutschlands mit verschiedenen IT-Diensten versorgte. Laut der E-Mail aus dem Kultusministerium wird es das aber in Zukunft nicht mehr tun. Die Ankündigung und ihr Zeitpunkt empören viele, unter anderem den
Philologenverband.
„Unglaublich“ nennt die Interessensvertretung der Gymnasiallehrkräfte es, dass „mitten im Corona-Lockdown und im digitalen Fernunterricht“ tausende Schulen erfahren, „die den schulischen Internetanschluss, ihre Homepage, die Lehrer-Emailkonten und großteils Moodle-Lernplattformen bei BelWü […] betreiben, dass diese schulischen Internet-Dienste jetzt sukzessive beendet werden sollen“. Sie sind nicht die einzigen, die sich über die Ankündigung aufregen.
„Da verlieren wir einen zuverlässigen Partner und die Schulen stehen erst mal ohne Lösung da“, schreibt uns ein Lehrer. „Ich bin sehr traurig. Vor allem der Zeitpunkt ist ‚perfekt‘ – ich habe gerade viel Zeit für eine komplette Neukonzeption unserer digitalen Infrastruktur“, schreibt ein Nutzer auf Twitter. Namentlich äußern will sich kaum jemand.
Dass eine Mail aus dem Kultusministerium plötzlich so viel Frustration und Bestürzung hervorruft, ist die Folge lange aufgestauter Probleme und verworrener Strukturen, in denen die Digitalisierung der Schulen in Baden-Württemberg verheddert ist.
BelWü darf Schulen langfristig nicht weiter versorgen
BelWü wird hauptsächlich vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg finanziert. Neben Universitäten und Hochschulen hat es in den vergangenen Jahren auch zunehmend Schulen im Land mit seinen Diensten versorgt. Grundlage dafür war eine Kooperationsvereinbarung mit dem Kultusministerium. Ab 2023 gebe es jedoch andere Regelungen im Vergabe- und Steuerrecht. „Diese erschweren die langfristige Bereitstellung von Dienstleistungen von BelWü für Schulen“, so die
Stellungnahme des Kultusministeriums, das bislang von Susanne Eisenmann (CDU) geführt wurde. 2019 habe das grüne Wissenschaftsministerium bereits entschieden, BelWü langfristig neu auszurichten.
Während die Zuständigkeit im Kultusministerium in der neu gebildeten Landesregierung
zu Theresa Schopper (Grüne) wechselt, bleibt ihre Parteikollegin und Wissenschaftsministerin Theresia Bauer in ihrem Amt. Bauer sagt
in ihrer Stellungnahme: „Das Hochschulnetz BelWü hat in der Corona-Pandemie den Schulen unmittelbar und gerne geholfen. Dies kann wegen der begrenzten Kapazitäten allerdings nur eine Nothilfe und Brücke sein und ist nicht als Dauerlösung möglich.“
„Nur warum kommt die Nachricht jetzt?“, fragt Lehrer David Baum. „Und dann noch so eine halbgare Sache.“ Schließlich lassen beide Ministerien weitgehend offen, wo die Schulen in Zukunft ihre Netzwerkanschlüsse bekommen sollen und wohin ihre Homepage, Wiki, Foren, NextCloud, eigene, selbstverwaltete Moodle-Auftritte umziehen werden. „Hier müssen Sie sich bitte um einen alternativen Dienstleister bemühen“, heißt es in der E-Mail des Kultusministeriums. Aus rechtlichen Gründen könne man keine Empfehlung für alternative Dienstleister geben. Die Abschaltung der Dienste soll im Oktober 2021 beginnen. Bis dahin lasse man die Schulen nicht im Regen stehen und helfe in der Übergangszeit, betont Wissenschaftsministerin Bauer.
Der Bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion
Stefan Fulst-Blei glaubt, hinter dem Zeitpunkt der BelWü-Mitteilung könnten strategische Gründe stecken. Der neue
Koalitionsvertrag von Grünen und CDU sah den Wechsel des bisher CDU-geführten Kultusministeriums an die Grünen vor. „Ich kann mir vorstellen, dass man mit dieser negativen Nachricht für die Schulen nicht den Neuanfang belasten will“, meint Fulst-Blei. „Das finde ich völlig daneben.“
Auch die
FDP-Fraktion kritisiert, die Entscheidung sei „unerwartet und faktisch zur Unzeit“ gekommen. Die Liberalen wollen von den zuständigen Ministerien mehr über die Gründe erfahren. „Egal wie man das inhaltlich begründet, egal ob notwendig oder nicht: Wissen die Ministerien eigentlich, was da gerade vor Ort passiert?“ fragt auch der Sozialdemokrat Fulst-Blei.
Nein, meint Lehrer David Baum. „Sie sagen, es wäre ja noch genug Zeit, aber man muss auch bedenken, dass man die Schüler bei einem Umstieg von einer Plattform auf die andere trainieren muss“, so Baum. Ähnlich schätzt Inga Klas vom
Verein „Medienkompetenzteam Karlsruhe“ die Situation ein. „Die Schulen sind natürlich überrascht und ein Umzug der Dienste ist nicht mal eben gemacht, da die Kapazitäten hinten und vorne sowieso schon fehlen“, sagt sie.
Erlass von 1998 regelt Stundenzahl
Das Problem ist aus ihrer Sicht: Schulen haben meist kein eigenes IT-Personal. Lehrer wie David Baum übernehmen die Aufgabe und müssen dafür etwas weniger unterrichten. Doch der Ausgleich kann die Mehrarbeit nicht aufwiegen.
In einem Erlass des Kultusministeriums aus dem Juni 1998 heißt es: „Es ist davon auszugehen, dass der Betreuungsaufwand je angefangene 25 Unterrichtscomputer an allgemeinbildenden Schulen bei 1 Wochenstunde liegt.“ Bei mehr als 50 Computern sind zwei Stunden vorgesehen.
1998 gab es aber noch keine Schulclouds, keine iPads und erst recht keinen Unterricht über Videokonferenzen wegen einer Pandemie. „Die Aufgabe war schon immer ‚ordentlich‘ und die Stunden zu wenig, aber in den letzten Jahren ist das aus dem Ruder gelaufen mit der zunehmenden Digitalisierung – und Corona hat dem ganzen die Krone aufgesetzt“, sagt David Baum. Formal ist er der „Netzwerkberater“ seiner Schule, er selbst bezeichnet sich als IT-Admin. Als die Umstellung auf das Homeschooling im Frühjahr 2020 begann, hat er kaum noch etwas anderes gemacht, als sich um die Schul-IT zu kümmern. „Zwischendurch habe ich geschlafen, bin mal laufen gegagen und habe nebenbei notdürftig den Unterricht geschmissen.“
Dass so viele Aufgaben an ihm hängen bleiben, liegt auch daran, dass die Zuständigkeiten zwischen Schulträger, Kommune und Land nicht eindeutig geklärt sind. Dazu kommt, dass jede Schule und jede Kommune anders sind. „In kleinen Gemeinden ist die Situation anders als in Stuttgart oder Karlsruhe mit eigenen IT-Abteilungen, wo sie Aufgaben bündeln können“, erklärt Baum.
Wer zuständig ist, wird oft im Einzelfall entschieden
In den
Digitalisierungshinweisen für Schulen von 2019 findet sich eine Tabelle, die aufzeigen soll, wer für welche Aufgaben zuständig ist: In einer Spalte steht „Schulträger“, in der anderen „Schule (Land)“. Die Spalten sind dann zur Hälfte mit Kreuzchen gefüllt, dazwischen schwirren einige Male der Großbuchstabe „B“ für Beteiligung und jede Menge eingeklammerte Kreuzchen für Einzelfallentscheidungen. In David Baums Worten: „Solch verworrene Strukturen, die Gesamtarchitektur passt absolut nicht.“ Bei der Finanzierung sei es ähnlich: Teilweise zahle das Land, teilweise der Schulträger, teilweise der Gebäudebesitzer.
Und auch der Bund zahlt für die Digitalisierung der Schulen. Laut der
Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag hat Baden-Württemberg aus dem Topf
„Digitalpakt Schule“ die größte Summe aller Bundesländer für 61 bereits abgeschlossene Maßnahmen abgerufen: über 2,5 Millionen Euro. Rund 500 weitere Maßnahmen sind bewilligt.
Im vergangenen Jahr stellte der Bund noch drei Zusatzhilfen zum Digitalpakt zur Verfügung: Je 500 Millionen Euro
für „Schülerendgeräte“,
für „Lehrerendgeräte“ und
für „Administration“, davon stehen je 65 Millionen Euro Baden-Württemberg zu.
Aus dem Budget für Administration können Schulen nun theoretisch eigene IT-Admins oder externe Dienstleister bezahlen. Bis zum 31. Dezember hat keines der Bundesländer der Bundesregierung von bewilligten oder abgeschlossenen Maßnahmen berichtet, die aus der Zusatzvereinbarung „Administration“ stammen, wie aus der Antwort der Bundesregierung hervorgeht. Doch Geld allein kann das Problem ohnehin nicht lösen. Selbst in der freien Wirtschaft mangelt es an IT-Personal, obwohl dort häufig die Bezahlung
besser ist als im öffentlichen Dienst.
Und auch beim Zusatzprogramm des Digitalpakts, das die Lehrer:innen mit Endgeräten ausstatten soll, gibt es einen Haken. Wieviele Laptops eine Schule bekommt, richtet sich nach den notwendigen Vollzeitstellen für die Unterrichtsversorgung. „Zwei Lehrerinnen in Teilzeit an einer Grundschule sollen sich dann also ein Gerät teilen, das geht gar nicht!“, sagt dazu Stefan Fulst-Blei aus der SPD-Fraktion. Schließlich arbeiteten Lehrer:innen trotz Teilzeitstelle meist parallel. Außerdem bliebe nach der Sonderzahlung des Bundes ungeklärt, wie die Folgekosten finanziert werden sollen. Was, wenn die jetzt angeschafften Laptops kaputt gehen oder gewartet werden müssen?
Die neue grün-schwarze Regierung möchte solche Zuständigkeiten zwischen Land und Schulträger beim Thema „Support und Wartung“ rechtlich und finanziell neu regeln. „Ab spätestens 2023“, heißt es
im Koalitionsvertrag. Dort steht auch, dass Baden-Württemberg Vorreiter bei der digitalen Bildung sein will. „Das, nachdem zweimal krachend die Bildungsplattform gescheitert ist? Ich bin ja bald lachend vom Stuhl gefallen, als ich die Stelle im Koalitionsvertrag gelesen hab“, so Fulst-Blei.
Baden-Württemberg hat schon mehrfach Versuche für eine landesweite Bildungsplattform gestartet. „Eine Katastrophe mit Fortsetzung“, nennt es der SPD-Abgeordnete. Ella 1 hieß das Projekt der früheren Kultusministerin Susanne Eisenmann, das 2018 wenige Tage vor dem Start scheiterte:
„Massive technische Probleme“. Ella 2 sollte her. Es folgten einzelne Modellprojekte. HPI, Itslearning, DiLer, Moodle, Big Blue Button und vor allem Microsoft. „Ständig neue Baustellen, in die viel Geld gekippt wird“, sagt Inga Klas. Sie koordiniert die Kampagne
„unsere digitale Schule“, für die sich mehrere Vereine und Interessensvertretungen zusammengeschlossen haben, um Forderungen an eine landesweite digitale Bildungsplattform zu stellen. „Bisher ergab sich aus den vielen kleinen Projekten nie eine verlässliche Lösung, weil nichts richtig zuende gedacht wird.“
Alle Karten auf Microsoft gesetzt
Rund 1.200 Schulen verwenden in Baden-Württemberg aktuell die Software von Microsoft 365, schätzt das Ministerium. „Ein Einbezug in die digitale Bildungsplattform wäre deshalb effizient und nah an der Alltagspraxis vieler Schulen“, so das Kultusministerium noch Anfang Mai. Der Landesdatenschutzbeauftragte (LfDI) Stefan Brink begleitete Modellprojekte mit Microsoft an einigen Schulen. Sein abschließendes Urteil sei „handlungsweisend, um den Schulen Rechtssicherheit im Hinblick auf den Datenschutz zu geben“, so das Kultusministerium.
Doch schon Ende April
war durchgedrungen, dass der LfDI Bedenken bei der Microsoft-Lösung hat. Am 7. Mai folgt dann
die öffentliche Stellungnahme: „Der Landesbeauftragte Stefan Brink bewertet die Risiken beim Einsatz der nun erprobten Microsoft-Dienste im Schulbereich als inakzeptabel hoch und rät davon ab, diese dort zu nutzen.“ Er räumt den Schulen eine Schonfrist bis zu den Sommerferien ein, „ab dem Beginn des neuen Schuljahres jedoch wird die Behörde allen dann vorliegenden Beschwerden mit Nachdruck nachgehen“, heißt es in der Pressemitteilung.
Beim Medienkompetenzteam in Karlsruhe freut man sich über die Nachricht des LfDI. „Es ist ein Desaster, was an Datenschutz gerade noch mit den Füßen getreten wird“, meint Inga Klas. Wenn Eltern der Nutzung bestimmter Software und Kommunikationstools nicht zustimmen, bedeute das für Kinder teilweise massiven psychischen Druck bis zu Mobbing. Ihr Eindruck: Gerade an Schulen, an denen das IT-Know-How fehlt, werde Microsoft gerne eingesetzt, weil es vermeintlich benutzerfreundlich sei. Wie es für diese Schulen nun weitergehen soll, weiß Inga Klas nicht. „Es ist einfach ein totales Chaos.“
„Kein kommerzieller Anbieter wird so ein Engagement zeigen, wie man es bei BelWü getan hat“, sagt David Baum. „Die haben über ein Wochenende im März 2020 mal eben mehrere tausend Moodle-Zugänge aus dem Boden gestampft, damit der Online-Unterricht läuft“, erinnert er sich. Dabei war es auch nach Auffassung des LfDI datenschutzrechtlich unproblematisch und habe sich bewährt.
Brink betont in seiner Stellungnahme zur Nutzung von Microsoft 365, dass eine landesweite Bildungsplattform auch ohne Microsoft weiter Zukunft habe: „Sie könnte beispielsweise aus unterschiedlichen Tools wie zum Beispiel Big Blue Button und Moodle bestehen, die bereits jetzt intensiv von den Schulen im Land genutzt werden. Da diese vom Land selbst betrieben werden, liegen damit zahlreiche im Pilotprojekt festgestellte Risiken hier prinzipiell nicht vor.“
„Wenn ich jetzt aufhöre, dann bricht alles zusammen“
Die Digitalisierung an Schulen in einer Zukunft nach der Pandemie zu regeln, reiche nicht, findet Lehrer David Baum. „Dann muss erst einmal das Inhaltliche im Unterricht aufgeholt werden, auch dann wird nicht die Zeit dafür sein, sich um die IT-Defizite zu kümmern.“ Er fordert langfristig, zentrale IT-Stellen auf Kreis- oder Landesebene aufzubauen, die sich um die Schulen kümmern.
Kurzfristig sollte den Schulen schon jetzt mehr Zeit eingeräumt werden, sich um ihre IT zu kümmern, findet Baum. Aktuell sei die Arbeitsbelastung einfach zu hoch – und daran litten im Endeffekt die Schüler:innen. „Ich könnte das nicht machen, wenn meine Schulleitung nicht brutal hinter mir stehen würde oder ich selbst Kinder hätte“, so der Lehrer. Er wisse von Kolleg:innen, bei denen Familien an der Arbeit kaputt gingen. „Die machen trotzdem weiter, weil sie denken, wenn ich jetzt aufhöre, dann bricht alles zusammen.“
Dabei mangelt es am Ende nicht einmal unbedingt am Geld oder an den Ideen für die Digitalisierung der Schulen. Dass die digitale Bildung so vor sich hin stolpert, liegt aus David Baums Sicht auch an etwas anderem: „Momentan setzt das System darauf, dass es an jeder Schule jemanden gibt, der das Ganze idealistisch als sein Projekt ansieht.“
*Name geändert
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