Ein Gespräch mit dem bulgarischen Politikwissenschaftler Ivan Krastev über »moralische Panik«, politischen Radikalismus als neues Statussymbol und darüber, warum Ablehnung von Migration nicht immer rassistisch sein muss
DIE FRAGEN STELLTE MARIAM LAU - aus der „DIE ZEIT - Nr. 33, 01.08.2024“

DIE FRAGEN STELLTE MARIAM LAU - aus der „DIE ZEIT - Nr. 33, 01.08.2024“

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DIE ZEIT: Herr Krastev, die gesamte politische Dynamik, das Interesse für Ideen, die Aufmerksamkeit spielen auf der Rechten. Souveränität, Identität, Freiheit – all diese Themen hat die Rechte erfolgreich besetzt. Der Linken, oder den Liberalen, gelingt es anscheinend nicht, irgendeinen fesselnden Gedanken hervorzubringen. Wie kommt das?
Ivan Krastev: Also, wenn man sich die aktuellen Wahlergebnisse in verschiedenen Ländern anschaut, ist es zwar nicht ganz so einseitig. In Frankreich und in Großbritannien hat die Linke überraschende Erfolge zu verzeichnen. Aber Sie haben recht: Diese Siege lösen keine intellektuelle Neugier aus, keine politische Faszination.
ZEIT: Woher kommt das? Was ist so faszinierend an der Rechten?
Krastev: Es hat damit zu tun, dass speziell die extreme Rechte Aufregung erzeugt, indem sie bestimmte Grenzen, die in der Nachkriegszeit gezogen worden sind, einreißt; indem sie bestimmte Tabus bricht. Dinge werden sagbar, die früher unsagbar waren. Nationalismus ist beispielsweise kein Schimpfwort mehr. Oder die Behauptung, die EU sei nicht die Lösung europäischer Probleme, sie sei selbst das Problem. Die Linke kämpft überall, von den USA bis Frankreich, einen defensiven Kampf. Die einzige verbindende Idee ist, die extreme Rechte zu verhindern.
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Zur Person
Ivan Krastev, geboren 1965 in Bulgarien, ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, wo er zur Zukunft der Demokratie forscht
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ZEIT: Die Neue Rechte setzt sich vom klassischen Rechtsextremismus ab, indem sie auf NS-Symbole verzichtet. Marine Le Pens Strategie heißt »Entdiabolisierung«. Ist das mehr als Kosmetik?
Krastev: Die Neue Rechte ist tatsächlich keine bloße Kopie rechter Bewegungen der Zwischenkriegszeit. Sie ist illiberal, und sie kann am Ende antidemokratisch sein, aber sie ist nicht die Taschenbuchausgabe des Faschismus. Vor allem ist es ein Fehler, alle Parteien rechts der Christdemokraten in dieselbe Schublade zu stecken. Die Neue Rechte ist wirklich neu, und ihre Absage an Nazi-Symbole ist mehr als Kosmetik.
ZEIT: Könnte es sein, dass die NS-Vergangenheit vielen Menschen einfach nicht länger wichtig ist?
Krastev: Psychologen versichern uns, dass kein Trauma länger als drei Generationen überlebt. Selbst wenn man versucht, die Erinnerung zu institutionalisieren: Was in den 1930er- und 40er-Jahren geschehen ist, das ist für junge Leute eine weit entfernte Vergangenheit. Der Thrill, ein Tabu zu überschreiten, mit dem einen selbst gar nichts mehr verbindet – das erklärt die Attraktivität der Neuen Rechten speziell für junge Männer.
ZEIT: Heißt das, wir sind dazu verdammt, die Dreißigerjahre zu wiederholen?
Krastev: Es gibt drei wichtige Unterschiede. Erstens waren das damals relativ junge Gesellschaften, in denen es sehr viele ehemalige Soldaten gab. Das waren außerdem Leute, die Gewalterfahrungen gemacht, Krieg erlebt hatten. Drittens kamen sie aus einer Welt der totalen Ordnung – also der Armee mit ihren Hierarchien und Befehlsketten – und sahen sich plötzlich mit dem Chaos der Nachkriegszeit konfrontiert, in dem die alten sozialen Pyramiden nichts mehr zählten. Es hilft uns also nichts, für die aktuelle Lage die Begriffe von damals zu verwenden.
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»Sowohl die extreme Rechte als auch die extreme Linke haben Erfolge mit einem postkolonialen Narrativ«
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ZEIT: Die Neue Rechte hat ganz explizit viele ihrer Strategien der Linken abgeschaut; man liest Lenin, man liest Gramsci, man liest Marx. Was bedeutet das für die beiden Lager?
Krastev: Die Linke ist fasziniert von der Neuen Rechten, die wiederum ihre Identität einer Faszination für die Linke verdankt. Aber es war eben eine ganz bestimmte Linke, von deren Erfolg die Neue Rechte beeindruckt war, nämlich die kulturelle Linke der Siebziger- und Achtzigerjahre mit ihrem Reichtum an Filmen, Musik, Kunstwerken und Theaterstücken, die alle eine ähnliche Sensibilität bedienten. Aber jetzt kommt eine interessante Gemeinsamkeit: Sowohl die extreme Rechte als auch die extreme Linke haben Erfolge mit einem postkolonialen Narrativ. Die Linke sieht Europa als die Kolonialherren und fordert deshalb: Free Gaza from German guilt! Die Rechte sieht die Europäer als die »Eingeborenen«, die vom »Großen Austausch« bedroht werden. Als Schwierigkeit für die Linke kommt hinzu, dass die Neue Rechte sich oft über eine starke Sozialpolitik definiert. Nehmen wir das Beispiel der polnischen PiS. Sie hat mit einer klassisch sozialdemokratischen Politik regiert, hat die soziale Ungleichheit reduziert, den Mindestlohn erhöht und so weiter.
ZEIT: Der Feind der Neuen Rechten ist nicht länger die Linke, sondern die liberale Mitte, in Deutschland beispielsweise vor allem die CDU.
Krastev: Das wiederum ist eine Ähnlichkeit mit den Dreißigerjahren, wo die beiden Extreme sich im Kampf gegen die Republik verschworen hatten. Aber es gibt noch einen anderen, demografischen Aspekt. Unter den Stimmen für Rechte und Linke finden sich viele junge Leute, die Männer eher rechts, die Frauen eher links. Aber anders als 1968 bringen sie heute in den alternden Gesellschaften nicht mehr die Zahlen auf die Waage, um wirklich etwas zu ändern. Deshalb wenden sich immer mehr von ihnen von konsensueller Politik ab und wandern aus dem Zentrum aus. Diese Generation ist einerseits die progressivste, was ihre Werte betrifft. Andererseits ist keine Nachkriegsgeneration so unzufrieden mit der Demokratie gewesen wie diese. versprochen hatte. Aber das hat ihrer Beliebtheit keinen Abbruch getan.
ZEIT: Wie kann das sein, warum produziert das keine gigantische Enttäuschung?
Krastev: Die Leute glauben: Der Rechten gelingt es vielleicht nicht, irreguläre Migranten aufzuhalten, aber die Linke will Migranten ins Land holen. Sie glauben, Meloni habe Verständnis für ihre Sorgen, während die Linke sie als Rassisten beschimpfe. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Politiker werden zunehmend nach ihren Absichten beurteilt, nicht nach ihren Resultaten. Und das führt zu einem paradoxen Effekt: Die Rechte normalisiert Migration. Meloni ist es nicht nur nicht gelungen, die Zahlen zu senken. Sie hat außerdem offen gesagt, Italien brauche eine halbe Million Migranten für den Arbeitsmarkt. Diese Aussage von einem Linken wäre ein Skandal gewesen. Das alles stellt aber immer wieder die Frage nach der Identität. Mit einem Freund gehe ich in Wien immer in ein uraltes italienisches Restaurant. Aber inzwischen sind weder der Besitzer noch der Koch, noch die Kellner Italiener. Sie waren nie in Italien, sie sprechen die Sprache nicht. Ist das noch ein italienisches Restaurant? Für mich als Bulgaren ist es das. Ein Italiener, der dort hingeht, um Landsleute zu treffen, sieht es vielleicht anders.
Hier gibt es eine Zwischenüberschrift:
»Politischer Radikalismus ist ein Statussymbol geworden. Diesen Status bekommt man nicht durchs Einverstandensein, erst recht nicht mit der Regierung«
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ZEIT: Klima und Migration – an den beiden Enden des politischen Spektrums stehen diese Themen als Überlebensfragen. Kann man da irgendwie zusammenkommen?
Krastev: Beide Themen werfen die Frage nach der Souveränität auf. Sie sind außerdem eng miteinander verknüpft. Wir werden immer mehr Orte auf der Welt sehen, wo Menschen nicht mehr leben können, weil es zu heiß und zu trocken geworden ist. In dieser Situation hat sich ein Teil der Wähler der libertären Rechten zugewandt. Ihre Botschaft an die Politik lautet: Ändert die Welt, aber fasst meinen Lebensstil nicht an! Sagt mir nicht, was ich konsumieren, wie ich fahren oder wie ich heizen soll. Dazu kommt, dass soziales Prestige im Netz vor allem durch Dissens erzeugt wird. Politischer Radikalismus ist ein Statussymbol geworden. Diesen Status bekommt man nicht durchs Einverstandensein, erst recht nicht mit der Regierung. Jeder will plötzlich eine erleuchtete Minderheit sein. Das ist für die Linke ein riesiges Problem. Sie hat immer vom Kollektivismus gelebt.
ZEIT: Auch die äußerste Rechte spricht ein Kollektiv an: die Deutschen, die Weißen...
Krastev: Ja, aber das sind oft imaginäre Kollektive, von denen in Wahrheit niemand genau weiß, wie man sie wieder herstellen soll. Linke und Rechte arbeiten beide mit einer Vorstellung vom Ende der Menschheit – die einen wegen des Klimas, die anderen, weil sie fürchten, sie seien die letzten Franzosen, Deutschen, Italiener oder Engländer. Das ist für die Demokratie ein großes Problem, denn sie lebt davon, dass die Zukunft offen ist. Wenn sie das nicht mehr ist, braucht man die Demokratie in den Augen vieler womöglich nicht mehr.
ZEIT: Von den Wahlergebnissen in Polen, Großbritannien oder Frankreich fühlten sich zuletzt viele ermutigt. Sie auch?
Krastev: Ich habe nie geglaubt, dass die extreme Rechte die europäische Politik dominieren wird. Ich habe viel mehr Angst vor Unregierbarkeit, vor Fragmentierung. Frankreich ist da ein gutes Beispiel. Man kann mit einer negativen Mehrheit gewinnen, aber eine positive Regierungsbotschaft lässt sich daraus nur schwer ableiten. Die Entwicklung wird heute viel mehr vom Backlash getrieben. Denken Sie an Polen: Es war nie so liberal wie nach den Jahren der rechtspopulistischen PiS-Regierung. Dito Großbritannien nach dem Brexit, nach 14 Jahren unter den Torys. Europa steht angesichts der Entwicklungen um uns herum einfach unter immensem Druck. Manche Reaktionen erinnern mich an den Film Willkommen, Mr. Chance, in dem ein völlig überforderter Gärtner verzweifelt versucht, mit der Fernbedienung die Realität vor seinen Augen zu verändern.
Hier gibt es eine Zwischenüberschrift:
»Denn Heimat ist der Ort, wo du die anderen verstehst und wo sie dich verstehen. Wo dir die Wörter nicht um die Ohren fliegen, weil jeder weiß, wie sie gemeint sind. Die größte politische Aufgabe ist es jetzt, den Leuten wieder ein Gefühl von Heimat zu geben«
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ZEIT: In dieser Lage macht die EU eine Estin, Kaja Kallas, zur neuen Außenbeauftragten. Sind die Osteuropäer eine Art Avantgarde, weil sie besser wissen, was Resilienz ist?
Krastev: Osteuropa besteht, vielleicht mit Ausnahme von Polen, aus kleinen Ländern, aus single-issue countries, die ein Thema umtreibt: die Nähe zu Russland. Kaja Kallas ist eine extrem begabte Politikerin mit sehr guten Ideen, ich bewundere sie sehr. Aber ab jetzt wird man sie fragen: Wie stehst du zu China? Wie zum Nahostkonflikt? Osteuropa kennzeichnet eine interessante Dualität, die einem zum Triumph oder zum Nachteil werden kann: Deutschland, Frankreich, Belgien – das waren alles mal Imperien. Die Osteuropäer dagegen sind untereinander durch ein starkes antiimperialistisches Gefühl verbunden, das sie mit dem Globalen Süden verband. Andererseits sind sie Teil des Westens. Nehmen Sie mich als Bulgaren. Glauben Sie, als jemand, der zwangsweise zum Osmanischen Reich gehörte, teile ich das Gefühl von postkolonialer Schuld, das manche im Westen empfinden? (lacht)
ZEIT: Wie könnte eine erfolgreiche Gegenstrategie gegen die stärker werdende extreme Rechte in Europa aussehen?
Krastev: Als Erstes muss man sich klarmachen, dass das Tempo der Transformationen, dazu Krieg, Inflation, Revolution des gesamten Alltagslebens, Migration einfach viele in Panik versetzen. Nicht jede Abwehr gegen Migration ist rassistisch. Es wird jetzt darauf ankommen, wer die richtige Sprache für all das findet. Die Leute haben das Gefühl, wir würden alle heimatlos. Denn Heimat ist der Ort, wo du die anderen verstehst und wo sie dich verstehen. Wo dir die Wörter nicht um die Ohren fliegen, weil jeder weiß, wie sie gemeint sind. Die größte politische Aufgabe ist es jetzt, den Leuten wieder ein Gefühl von Heimat zu geben.
Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT
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