Jean-Luc Godard und der Kriegvon Kurt Hofmann Jean-Luc Godard, vor kurzem gestorben und für das Kino unersetzbar, hat sich in […]
Entlarvung der PhrasenJean-Luc Godard und der Kriegvon Kurt HofmannJean-Luc Godard, vor kurzem gestorben und für das Kino unersetzbar, hat sich in seinen Filmen immer wieder mit dem Krieg auseinandergesetzt. Wie treibt man dem Bild das Abbild aus und den Worten das Wiederholbare? Was in Godards Sinne dabei vermieden werden soll: das nichts aussagende, »anklagende« Bild und eine Sprache, die im Vokabular des Krieges den Krieg bekämpfen will.
Eine junge Frau liest aus
Les Misérables (Die Elenden) von Victor Hugo vor, ein Kind, möglicherweise ihr Sohn, hört zu. Der Unterschied zwischen repetieren und dem Repetiergewehr: Während die Frau weiterliest und das Kind Verstandenes wiederholt, sind draußen Schüsse zu hören. Draußen, das sind eine Straße, auf der man das Kind nun spielen sieht, und eine Hausmauer, an der ein Soldat lehnt. Die junge Frau küsst den Soldaten.
Später: Der Soldat, an das Wrack eines Autos gelehnt, schreibt einen Satz, die Satzteile verstreut auf die Rückseiten von Kunstkarten mit Motiven aus der Französischen Revolution: »Von allen Tyranneien … die schrecklichste … ist die…« Der Soldat stirbt. Ein anderer Soldat, womöglich sein Kamerad/Freund/Nachbar, vielleicht aber auch der, dessen Kugel den Soldaten getroffen hat, hilft der Frau, den Toten wegzutragen.
Der Satz, den der Soldat nicht zu Ende schreiben konnte, wird vollständig sicht- und hörbar: »Von allen Tyranneien … die schrecklichste … ist die … der Ideen.«
Eine junge Frau liest aus
Les Misérables von Victor Hugo vor: »Es gibt Aufstände, die auf Zustimmung stoßen. Die man Revolutionen nennt. Abgelehnte Revolutionen dagegen heißen? – Aufruhr!«
Ein Soldat ersucht um Schreibwerkzeug. Der andere Soldat, hinter einem Gebüsch in Stellung, macht eine Bewegung, wie wenn er eine Handgranate werfen würde. Der erste Soldat aber fängt einen Kugelschreiber auf.
Der Soldat hinter dem Gebüsch bringt eine Panzerfaust in Anschlag. Er zielt. Man sieht das Gesicht des spielenden Kindes in der Nahaufnahme.
Godards Soldaten in
Die Kindheit der Kunst, einem von Godard gemeinsam mit Anne-Marie Miéville inszenierten Kurzfilm, sind weder durch Uniform, noch durch Motivation unterscheidbar. Sie tragen Zivil, der Mann hinter dem Gebüsch mit der Panzerfaust im Anschlag könnte der Nachbar/Freund oder auch der Gegner/Feind des Mannes sein, der am Autowrack lehnt, das eine schließt das andere nicht aus. Was der Hintergrund des Kampfes ist, bleibt offen. Die »reale« Entfernung des Soldaten hinter dem Gebüsch vom spielenden Kind, das scheinbar dessen Panzerfaust erblickt, ist ohne Belang.
Die Panzerfaust ist auf das Kind gerichtet, bedroht dessen Zukunft, unabhängig von der konkreten Situation. Wenn der an das Autowrack gelehnte Soldat schreiben will, muss er erst die Waffen ablegen – Kriegsgerät und Reflexion schließen einander aus. Die Postkarten mit Motiven aus der Französischen Revolution sind sichtbar beschmutzt – die Gegenwart des Krieges zeitigt die Beschmutzung der Ideen.
Der Soldat schreibt einen Satz, dessen Satzteile auf mehrere Karten verteilt sind: »Von allen Tyranneien … die schrecklichste … ist die … der Ideen.«
Doch diesen Satz unterschreibt Godard nicht. Langsam sehen und hören wir, wie der Satz entsteht. Bevor er dazu kommt, auch den Inhalt des letzten Teils des niedergeschriebenen Satzes vorzulesen, trifft die Kugel den Soldaten: der Schuss hat den Gedanken unterbrochen, die Kugel ist der Feind der Ideen. Die Tyrannei entsteht also nicht durch »die« Ideen, sondern durch die »falschen«, weil funktionalisierten Ideen – wie Kultur und Barbarei nur einen Häuserblock entfernt voneinander wohnen.
In
Die Kindheit der Kunst wird ein anämisches Bild des Sterbens sichtbar: der Phrasen beraubt, wird dem Schlachten keine Leidenspracht vergönnt.
In Godards 1962 entstandenem Film
Die Karabinieri werden in einem fiktiven Land zwei arglose Bauern namens Ulysses und Michelangelo (!) für den Krieg angeworben. Wenn sie dem Feind alles nähmen, könnten sie endlich zu Reichtum gelangen, erzählt ihnen der Werber, sie müssten nur unterschreiben und mit ihm in den Krieg ziehen.
Der Bauer Michelangelo fragt: »Kann man im Krieg auch Spielautomaten stehlen?« »Ja.« »Wenn wir alten Leuten die Brillen kaputt machen, sagt dann keiner was?« »Nein.« »Und Kindern, kann man denen einen Arm brechen oder auch beide? Darf man jemanden den Rücken grün und blau schlagen? Kann man denn auch, wenn man will, Wohnungen plündern?« »Natürlich.« »Und kann man Häuser in Brand stecken? Und Frauen vergewaltigen? Und hat man auch das Recht, schicke Hosen zu stehlen?« »Ich sage doch, ja.« »Kann man auch Unschuldige abschlachten, wenn man will?« »Ja.« »Und auch Leute denunzieren?« »Ja.« »Und man kann essen gehen und die Zeche prellen?« »Ja,ja, so ist das im Krieg.«
Was Godards Figuren in
Die Karabinieri sagen, ist nicht deren Perspektive. Dem Bauern, der gerne Spielautomaten und schicke Hosen stehlen sowie die Zeche prellen würde, werden in satirischer Überhöhung bittere Wahrheiten über den Krieg in den Mund gelegt. Während er wohlgemut in den Krieg zieht, implizieren »seine« Fragen schon, was aus dem Bauern wird, wenn er endlich zur Kriegsmaschine umgewandelt ist.
Ebenso verhält es sich mit dem auf verschiedenen Postkarten verteilten Victor-Hugo-Zitat über die Tyrannei der Ideen (in
Die Kindheit der Kunst). Ist endlich nach dem Tod des Soldaten der vollständige Satz sichtbar, wird er nicht als Kommentar verwendet, sondern als falsch entlarvt.
In Widersprüchen denken, um gesellschaftliche Widersprüche sichtbar zu machen – so begegnet Godard den Lügenbildern des Krieges.